Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 162

Das Princip der Geschlechter Classicität und Germanismus (Hartmann, FranzChamberlain, Houston Stewart)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 162

Text

CHAMBERLAIN: CLASSICITÄT UND GERMANISMUS.

dass kein menschliches Wesen dabei zu
kurz kam, weil, wie jeder Sachverständige
weiß, das eigentliche Wesen des
Menschen in seinen verschiedenen
Einverleibungen auf Erden
bald in
einer männlichen, bald in einer weiblichen
Persönlichkeit verkörpert erscheint, und
somit in dem einen Leben den Verstand,
in dem anderen das Herz mehr ausbilden
konnte. Zur Zeit des Hexenwesens im
Mittelalter gerieth das Herz auf Irrwege
und da musste ihm der Verstand zu Hilfe
kommen; jetzt ist die intellectuelle Specu-

lation unnatürlich in die Höhe geschossen;
der Verstand wird überfüttert und das
Herz ist einem chronischen Marasmus
verfallen. Dagegen gibt es nun kein anderes
Mittel, als dass das Weibliche dem Männ-
lichen zu Hilfe kommt, und dies wird am
besten dadurch geschehen, dass sich die
Frau zum Manne heruntersenkt, sich mit
ihm verbindet und sein Denken und
Wirken theilt. Dann ist für ihn das Beste
zu hoffen; denn sie zieht ihn mit sich
empor, vorausgesetzt, dass er sie nicht
herabzieht und sie mit ihm zugrundegeht.

CLASSICITÄT UND GERMANISMUS.
Von HOUSTON STEWART CHAMBERLAIN (Wien).

Die Schlacht bei Sedan bedeutet einen
Sieg der Barbaren über classische Cultur:
Diese Behauptung, der wir auf der zweiten
Seite von Heidenstams* Broschüre begeg-
nen, lässt mehr hoffen, als der Autor dann
hält. Wir glauben, einen Gegner Tolstojs,
aber aus Tolstoj’schem Blute geboren,
reden zu hören; und in der That, es ist
dasselbe echt nordische Fechten im Nebel,
alle Umrisse verwischt, alle Gestalten zu
Ungeheuern verzerrt; doch fehlt hier
zweierlei: erstens die logische, sowie auch
die supralogische Consequenz, durch welche
jede — auch die verkehrteste — Anschauung
Größe erhält, und zweitens jener Kern
von Wahrheit, aus welchem manchmal
phantastische, unhaltbare Paradoxe er-
blühen mögen, ohne welche aber keine
geistige Kundgebung, und sei ihre Absicht
eine noch so löbliche, wirkliches Interesse
einzuflößen vermag. Jeder Ausdruck
schwärmerischer Bewunderung für helle-
nische Cultur, und gäbe sie sich noch so
einseitig, wie z. B. bei Hölderlin, berührt
sympathisch; wer das Schöne liebt, ist
ein Künstler, und von einem Künstler
fordern wir nicht allseitige Gerechtigkeit.
Doch was sollen wir denken, wenn ein

Mann ein wahres Pamphlet voll Gift und
Spott gegen das Germanische schreibt
und einen Petrus Eremita herbeisehnt,
um »einen Kreuzzug gegen den Germanis-
mus zu predigen« (als besäßen wir keinen
Ignatius Loyola!), und wenn er uns dann
auf den letzten vier Seiten mittheilt, die
»Barbarei«, gegen die er so namenlos ge-
poltert hat, sei nur »ein Name«, nur ein
Wahnbild, in Wahrheit bewege sich unsere
Zeit »reicherer Classicität« entgegen, und
unser neunzehntes Säculum werde dereinst
»unter jenen Jahrhunderten sitzen (!), welche
die Nachwelt im Triumphwagen zieht?«
Ja, wozu dann der Lärm? Und wie ver-
hält es sich mit der Schlacht bei Sedan?
Diese plötzliche volte-face lässt uns em-
pfinden, dass der Autor, der unsere Lang-
muth durch sein maßloses, blindes
Schimpfen schon auf eine harte Probe
stellte, uns außerdem nur zum Narren
gehabt habe — und über so etwas ärgert
man sich mehr als über die verkehrtesten
Ansichten. An mehr als einer Stelle stellt
Heidenstam den Hellenismus als das Ideal
menschlicher Cultur vor uns hin; diese
Auffassung ist ebenso unoriginell als ein-
seitig; doch gleichviel, hier soll uns ein

* Verner v. Heidenstam: »Classicität und Germanismus«. Autorisierte Übersetzung
aus dem Schwedischen von E. Stine. (A. Hartlebens Verlag, Wien, 1900.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 162, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-07_n0162.html)