Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 154

Flandrische Lieder Unser Leben und Tod II. (Lemonnier, CamilleButtenstedt, Carl)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 154

Text

BUTTENSTEDT: DIE ÜBERTRAGUNG DER LEBENSKRAFT.

Sind wir erst einmal reich, dann wollen wir dorthin, an den Rand des
Feldes gehen, wo der Himmel glänzt, und schauen, was jenseits vom Acker
liegt. Dort liegt die Kirche und der Friedhof; der Tod läutet dort die Glocken.
Houlah! Houlah! Hü! Ja!

DAS LIED DER JACQUERIE.*

Wer hat gesagt, wir wären keine Menschen wie die andern? Wie die
andern hier haben auch wir unsern ersten Schrei zwischen den Wassermühlen
und den Windmühlen ausgestoßen. Dann wuchsen uns die Zähne und der Bart,
und dann haben wir gebissen wie die Thiere! Unsere Haare flatterten im
Winde wie die Fahnen.

Warum sollten wir geringer sein als die andern, die gleich uns aus dem
Schoß einer Frau hervorgegangen? Haben wir nicht auch Hände, um sie zu
würgen, wie sie uns erwürgen?

Wir haben grad solche Gesichter wie sie und können gerade so leiden.
Wir sind braun wie die Felder, unsere Augen blitzen wie die Sensen, mit
denen wir sie am Tag der blutigen Ernte mähen werden.

Überall, wo unsere großen Füße den Boden treten, ruht der Leib des
Herrn, der zu unserer Erlösung gestorben ist.

* Seit dem Bauern-Aufstand von 1358, unter Carl dem Bösen von Navarra, die allgemeine
Bezeichnung für aufrührerisches Volk.

UNSER LEBEN UND TOD.
Von CARL BUTTENSTEDT (Rüdersdorf-Berlin).
II.
DIE ÜBERTRAGUNG DER LEBENSKRAFT.

Die beste Medicin für den Kranken
ist der Gesunde. MESMER.

Wenn ein Mensch so krank ist, dass
seine eigene Naturheilkraft einen so niedrigen
Grad erreicht hat, dass sie sich selber
nicht mehr helfen kann, und alle Hoffnung
auf Genesung aufgegeben ist, dann (hat
die Erfahrung gelehrt) gibt es noch ein
Mittel, das helfen kann, und das ist die
Ansteckung durch Gesundheit.

Das mag nun freilich den Ohren der
heutigen Menschheit sehr unglaubwürdig
klingen, aber es muss doch naturwissen-
schaftlich widersinnig erscheinen, wenn
nur kranke, nicht auch gesunde Stoffe

ansteckend wirken sollten, denn sie müssen
doch beide ein und demselben Gesetze
unterliegen. — Wir brauchen durchaus
nicht weit naturwissenschaftlich zu suchen,
um nachzuweisen, dass jeder Mensch, jedes
Thier unsichtbare Ausdünstungen, Aus-
strömungen, ja sogar rapide Ausstrahlungen
hat — denn es ist eine alte Erfahrung,
dass unsere Haushunde unsere Spuren
riechen, die unser Fuß hinterlässt. Unter
Hunderten von Fußspuren riecht unser
Hund unsere Spur heraus. Die Nase ent-
puppt sich hier als ein feineres Organ

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 154, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-07_n0154.html)