Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 153

Flandrische Lieder (Lemonnier, Camille)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 153

Text

FLANDRISCHE LIEDER.
Von CAMILLE LEMONNIER (Brüssel). DAS LIED VOM SPINNROCKEN.

Spinnt, ihr Rocken, spinnt! Die himmlischen Spindeln dort oben spinnen
Schnee, die Mühlen im Winde spinnen Mehl. Mein Herz spinnt wie die Spinne
dunkle Fäden, mein Herz spinnt das Garn zu meiner Witwenhaube. Spinnt,
ihr Rocken, spinnt!

Mein Mann ist mit dem König fort ins gelobte Land. Sie haben die
Sonne auf ihren Fahnen mit fortgenommen.

Ich bin wie ein Feld unter dem Reiffrost; nun schneit der Winter auf
meine Schultern. Ich bin wie ein Feld, in dem die Pflugschar unter dem Schnee
stecken geblieben. Spinnt, ihr Rocken, spinnt!

Beim Abschiednehmen sprach mein Mann zu mir: »Sie haben unsern
Herrn ans Kreuz geschlagen! Sie haben ihn mit ihren Lanzen in die Seiten
gestochen!« Damals grünten die Zweige, der Thau glänzte auf der Heide wie
die Thränen unseres Herrn — — Die Zweige haben nicht wieder geblüht, der
Winter spann seinen Schnee. Ich spinne allein am Feuerherd das Garn meines
Kummers. Spinnt, ihr Rocken, spinnt!

Wer ist jene Frau? Die meinige hatte blonde Haare, so golden wie der
reife Weizen. Sagt, wisst ihr nicht, was aus ihr geworden ist? — Mein Mann
kam zurück und hat mich nicht erkannt. Tragt mich nun auf mein Bett und
hüllt mich in das Leichentuch, das ich mit meinen grauen Haaren gewebt.
Spinnt, ihr Rocken, spinnt!

DAS LIED DES KLEINEN BAUERN.

Wie Mann und Weib ziehen der Ochse und die Kuh den Pflug. — Houlah!

Vom Morgendämmern bis zum Abend schreiten sie langsam und abgezehrt
durch die Ackerfurchen. Das Feld ist abschüssig; sein äußerster Rand versenkt
sich in den Himmel. So oft es aufwärts geht, legen der kleine Ochse und die
Kuh sich kräftiger ins Geschirr. Sie glauben, wenn sie oben sind, wird man
sie zu ihrer Krippe heimführen. — Houlah!

Nun müssen sie wieder hinunter, um wieder hinauf zu steigen. Nie werden
sie fertig damit, die Kiesel mit der Pflugschar zu durchfurchen. — Ich und
Katia, wir sind wie der kleine Ochse und die Kuh. Geht der eine nach rechts,
so geht der andere ihm nach. Lang, lang schon stürzen wir das Feld mit
unserem Pflug, und immer werden die Steine nicht weniger. — Der kleine
Ochse beklagt sich nicht bei der Kuh, und auch die Katia beklagt sich nicht
bei mir. Wir sprechen nie zu einander. Der Mund ist eine Mühle, die nur
leeren Wind mahlt. — Houlah!

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 153, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-07_n0153.html)