Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 152

Der Garten (Ysaey, L.)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 152

Text

YSAEY: DER GARTEN.

MAREEN:

Dann kamen Stunden voller Kummer
Und Thränen, bis ich endlich stille ward
Und leben lernte, wie ich heute lebe.

FERRAND:

Und dann?

MAREEN:

Dann kamst ja Du.

FERRAND:

Ja, dann kam ich,
Und nahm Dich bei der Hand, und führte
Dich
In dieses Haus und glaubte eine Göttin
Aus weißem, keuschen Marmor zu behausen,
Und freute mich zuweilen ihrer Kühle.
Nun seh ich —

MAREEN:

Was? Dass ich aus Marmor nicht?
Nicht kalter Stein?

FERRAND:

Mareen, ich fass es nicht!
Mir ist, als wendest Du zum erstenmale
Dein Antlitz meinem zu und anders sind
Die Züge, als ich nach der Form des Kopfes,
Der Haltung, der Geberden und der Sprache
Es mir gedacht. Fremd bist Du plötzlich mir,
Und in das Neue kann ich mich nicht finden.
Noch nicht, vielleicht lern ich es einstens
lieben,
Wie ich mein Traumbild liebte, aber jetzt
Bin ich erschreckt, verwirrt.

MAREEN:

Und warum das?
Was ist geschehn? Wir sprachen ja von
Zeiten,

Die längst vergangen sind und wesenlos.
Der Schatten eines Schattens zog vorbei
Und haucht auf unsres Glückes klaren
Spiegel,
Das will uns kümmern? — Fühlst Du denn
nicht auch,
Dass, was so lange ich vor Dir verborgen,
Ein Nichts ist, längst in todten Staub
zerfallen?
Das Einz’ge, was ihm Leben gab, das war,
Dass Du nichts davon wusstest; hätt ich Dir
Davon gesprochen, längst war es vergessen.
Und dann — nun, da ich alles Dir gesagt,
Versuchst Du es wohl, eher als bisher,
Den Eingang zu dem Gartenthor zu
finden — —
Vielleicht wirst Du den Abend einstens
segnen,
Der Dir Erkenntnis brachte, wirst vielleicht
Die Jahre nur beklagen, wo dem Steinbild
Du huldigtest, da doch das Leben nah.
Vielleicht — wer weiß, was noch aus dieser
Stunde
An süßem Glück erblüht. — Geliebter
Freund,
Es gibt so wundervolle Möglichkeiten,
Die köstlicher als jegliche Gewissheit!

FERRAND:

Mareen, Geliebte, Süße, hast Du wirklich
Auch alles mir gesagt? Steht wirklich nichts,
Auch nicht ein Schatten, zwischen unsern
Seelen?
Du raubst mir viel und schenkst mir fast
noch mehr!
Ich liebe Dich so sehr, Grausame Du,
Großmüthige — wie soll ich Dich nur
nennen?
Du bist wohl beides, beides, wie das Leben,
Es gibt im Nehmen und es nimmt im
Geben — — —

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 152, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-07_n0152.html)