Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 109

Stefan George: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod (Gundolf, Friedrich)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 109

Text

STEFAN GEORGE: DER TEPPICH DES LEBENS
UND DIE LIEDER VON TRAUM UND TOD.
MIT EINEM VORSPIEL.
Von FRIEDRICH GUNDOLF (Darmstadt).

Er darf nur reden wie herab vom äther.

Stefan George’s Kunst und Persönlich-
keit ist aus seinen früheren Werken von
Anderen mit Einsicht dargelegt worden.
Die Aufgabe dieser Zeilen ist: zu zeigen,
wie ein solcher Geist weiter ausgreifend,
tiefer dringend, höher reichend den größten
Gehalt als Künstler bewältigt. Die Ent-
wicklung und Befreiung des Einzelnen, die
Welt der Träume und die weite Cultur
eines ganzen Volkes begreift George’s neues
Werk in dichterischen Gebilden. Wie mit des
Dichters Persönlichkeit seine Schöpfungs-
welt gewachsen ist, sein Gesichtskreis sich
weiter ausgespannt hat, ist hier nicht zu
verfolgen; von einem früheren Werk soll
nur insoferne die Rede sein, als manche
seiner Säfte in das neue übergeflossen sind.

Das Vorspiel zum »Teppich des Lebens«
wuchs aus dem »Jahr der Seele«. Hier wie
dort die innere Entwicklung und Befreiung
eines Einzellebens mit allen Bezügen zur
geistigen und sinnlichen Welt. Wenn aber
die Sänge aus dem »Jahr der Seele« uns
von einem besonderen Dasein und Schicksal
Kunde gaben, so schaut das Vorspiel über
das Besondere hinaus. Das Leben nicht
eines höheren Menschen, sondern des
höheren Menschen überhaupt wird ent-
wickelt: die stufenweise Erlösung der be-
wegtesten Seele durch das ewig Sichere
und Göttliche in ihr. Nicht ein besonderer
Trieb wird der große Erreger und Spiegel,
sämmtliche Lebenselemente wirken ein.
Freilich wird alles von jenem Göttlichen
beherrscht: dem Engel, welcher, die höch-
sten Kräfte rein und frei zusammenfassend
und verkörpernd, als ein Überirdischer den
Erdensohn zum Heile lenkt. In gewissem
Sinne ist der Engel auch die Kunst, zu-
nächst aber die Verkörperung alles dessen,

was im Einzelnen selbst über Zeit und Raum
ins Ewige und Unbedingte hinaus weist.

Als Prooemium erscheinen die drei
ersten Gesänge: Aus tiefster Nieder-
geschlagenheit und dumpfem Ringen kommt
der Seele eine neue Erleuchtung. Mit der
Erscheinung des Engels beginnt die neue
Menschwerdung. Dies ist das Bild des ersten
Gedichtes. Der Kampf um das junge Heil,
das bange und glühende Flehen des schon
Begnadeten und noch Ungewissen und die
strenge Verheißung des Heilandes bewegt
die folgenden Strofen. Dann ist der Glaube
an des Engels Lenkung gefestet, und das
errungene Licht wird nimmer verlöschen,
welche Stürme auch fürder stoßen mögen.
Es bleiben Kämpfe zu bestehen mit allem,
was aus jenem überwundenen Leben noch
haftet, denn der Erleuchtete ist nicht streit-
los erlöst, und Gewissheit noch nicht
Besitz.

Der Kampf mit der Dumpfheit vergange-
ner Tage und mit dem ungewohnten Licht,
die Anfechtungen und ihre Überwindung
geben die Motive zu den sieben nächsten
Gesängen. In künstlerischer Folge, welche
hier auch die seelische ist, zeigen sie das
Schwanken unter dem heiligen Dienst, der
erst eine neue Last dünkt (IV), die Lö-
sung dieser Qual durch dasjenige, was nach
allen Irrfahrten noch wertvoll bleibt: die
Heimat (V), brennende Schrecken und Be-
gehre der Jugend (VI); die Befreiung von
Lehren und Meinungen und Parteien, Be-
schränkungen des großen Lebens und der
erhabenen Seele (VII); so löst des Engels
Wort und Wink den Geläuterten auch vom
überkommenen Sittlichen (VIII). Erst wenn
alle diese Gesetze nimmer gelten, welche
von außen kamen und den Menschen nicht

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 109, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-09_n0109.html)