Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 110

Stefan George: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod (Gundolf, Friedrich)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 110

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GUNDOLF: STEFAN GEORGE, DER TEPPICH DES LEBENS.

bannen dürfen, wie sie ihm nichts geben
können, ist das Künstlerische selbständig
geworden, und fortan gilt nur, was aus
der Seele und dem Leben selber wächst.
Dies Gesetz des Daseins, sich zu bilden,
zu finden und zu bewahren, fordert neues
Ringen. Der alte abgeworfene Zwang war
doch eine, wenn auch verderbliche, Sicher-
heit. So findet der Blindgeborne seinen

Weg sicher und schwankt vor vieler Helle,
wenn ihm der Staar gestochen ist. Die
Richte gibt wie immer des Engels Finger-
zeig: der spricht die Formen aus, welche
das Leben des Menschen fordert und welche
der Irrende selbst nicht kennt. Die Ver-
wirrung der andrängenden Welt klärt das
göttliche Gebot aus dem Munde des En-
gels:

Sind auch der dinge formen abertausend
Ist dir nur Eine: Meine sie zu künden.

Er bedeutet den Bangen und Matten
zwischen brüten Umgebungen und qual-
vollen Fristen die grosse Pflicht. Die
Mahnung an die schöpferische Selbst-
herrlichkeit wird in dem Weh derer, die
sich nicht verschenken können, Trost und
Erlösung. Jetzt erst besitzt die Seele sich
selbst und die Welt. Die folgenden Ge-
sänge sind eine Ausdeutung des neuen
Lebens. Die Bezüge zu allen grossen
Werten werden theils unmittelbar, theils
symbolisch ausgesprochen. Da wird die
Schönheit und Harmonie in Natur und
Kunst gewählt und bewahrt, die schmerz-
lich unverstandene Freundschaft des Er-
habenen, die Liebe zur heimatlichen Erde
bleiben milder Besitz nach Entsagungen
und Irren. Da wird das bunte Leben des
Volkes: die Schönheit des Marktes ge-
priesen und der Genuss der geistigen
Rede. Der Auserwählte freut sich der
göttlichen Verehrung der Jugend, des
erlauchten Herrscherthums. Er ist des
Ruhms auch unter Verneinenden gewiss,
er gedenkt getröstet der grossen Geistes-
ahnen. Da bebt auch noch einmal die
Qual der tiefen Einsamkeit in erschütternden
Klagen zum Engel. Erinnerung und
Ahnung, Sehnsucht und Erfüllung tönen
empor und hinab. Es schliesst sich der
Kreis. Einsam wie zum Beginn, doch
gross und frei mit dem Ewigen bleibt
die Seele vor dem Tode. Am Sterbebette
hält der Engel Wacht: ein feierliches
Symbol des vollendeten Heils, der Besiegung
des Todes, der Erfüllung des Lebens.

Ein Weniges über Darstellung und
Stil! Das Vorspiel zum »Teppich des
Lebens« wird nicht wie andere Werke
Stefan George’s durch die Einheit einer
Stimmung, sondern durch einen Grund-

gedanken, eine Grundanschauung zu-
sammengehalten. Ein durchgehender Con-
flict zwischen Irdischem und Göttlichen,
ein Streben nach Lösung nothwendiger
tragischer Verwirrungen, die häufige An-
wendung des Dialogs bringen das Werk
dem Dramatischen sehr nahe. Eine un-
mittelbare Bewegung pflanzt sich durch
alle Gedichte fort, und jedes einzelne, so
bedeutsam und abgeschlossen für sich es
ist, weist wie eine Scene im Drama auf
das vorhergehende zurück, auf das fol-
gende voraus, sodass jedes bedingt ist
und eine Folge hat. Keines lässt sich
aus dem Kreise der XXIV wegdenken.

Die Verse sind gedrängt bis zur
Überfülle mit Bild und Gedanke, tief und
klar, stark und dröhnend, feierlich er-
schütternd und innig schmiegsam. Alles
Geistige ist sinnlich sicher bezeichnet,
Bewegung und Zustand wesentlich und
rein geschaut und mit dem gewichtigsten
Wort nachgebildet. Die wildeste Leiden-
schaft und der bohrende Jammer äussern
sich mit Kraft, aber auch mit Schönheit.
Denn je weniger die Flamme dieser Dichtung
lodert, desto tiefer glüht sie. Freilich ist
hier kein Geschrei von Qualen, kein ab-
gerissener Seufzer und kein dumpfes Ge-
ächze, auch wird nicht mit der Brunst
geprahlt: aber die tiefen Leiden sind ge-
bändigt und werden wie der erhaben
traurige Klang von grossen Orgeln —
und der Stolz tönt hinaus wie rollender
Donner durch die gewölbte Nacht.

Da Rhythmus und Stimmung mit
den Worten des Verstandes nicht aufzu-
lösen sind, sollen hier einige Strofen
folgen als ein dünner Querschnitt für
diejenigen, denen das Werk nicht zu-
gänglich ist:

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 110, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-09_n0110.html)