Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 115

Stefan George: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod Die Klippeninsel (Gundolf, FriedrichWickström, Victor Hugo)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 115

Text

WICKSTRÖM: DIE KLIPPENINSEL.

In umschwärmendem chor
Und in zitternder jagd
Nach den wiesen die woge
Nach silber smaragd

So folgen dir froh
Die dein lächeln erkürt
O mein tag mir so gross
Und so schnell mir entführt.

Soweit der Stimmungsgehalt eines
dichterischen Werks von einer ganz anders
gearteten Seele durch zeichnerische Ge-
bilde in der Bewegung der Linien aus-
gedrückt werden kann, hat Melchior
Lechter
es bei dem Teppich des Lebens
geleistet. Zwei Künstler verschiedener
Sfären haben dasselbe Leben, jeder
auf seine Art, bewältigt und doch ihre
Ausdrucksmittel so vereinigt, dass sie ein
organisches nicht zu trennendes Ganze
geschaffen haben. Wir wüssten nicht zu

sagen, ob die feierliche, fast kirchliche
Gehobenheit des Vorspiels, die Fülle und
fruchtende Pracht des Teppichs, die
traumhafte Trunkenheit der Lieder durch
die Worte des Dichters oder durch die
Linien des Zeichners uns lebendig werden.
Wir wollen auch nicht scheiden, sondern
das Werk als eine einige einzige Schöpfung
genießen, erfreut, wenn Dasjenige, was
Geist und Seele am tiefsten und reinsten
erregt, auch die Sinne am schönsten
anspricht.

DIE KLIPPENINSEL.
Von VICTOR HUGO WICKSTRÖM (Östersund, Schweden).

Die Klippeninsel hob ihre schwarzen
Massen zum Himmel auf. Sie lag ganz
für sich allein ein gutes Stück vom Fest-
land, und so hatte sie gelegen seit un-
denklichen Zeiten. Sie sah so düster und
abschreckend aus mit ihren zerrissenen
Kämmen und steilen Felswänden. Keine
Blumen wuchsen auf ihren rauhen Seiten,
keine Grasmatten schmückten ihre sonnen-
lose Tiefe.

Die Klippeninsel hatte schon ihre Kind-
heit hinter sich, eine freudlose Kindheit
von vielen, vielen tausend Jahren, als aber
ihre Jugend kam, wachte sie auf und sah
hinaus über das Meer, versuchte der
Sonne zuzulächeln und warf verstohlene
Blicke dem Strande zu. Die Sonne war
einsam und das Meer war einsam, am
Strande aber lagen lächelnde, grünende
Inseln, die sich dicht aneinander drückten,
sich Grüsse sandten in blumenduftenden
Windhauchen und einander zuflüsterten
mit den Wellen, die ihre fruchtbaren
Ufer liebkosten.

Alles dies sah und fühlte die Klippen-
insel und wurde von einer unsäglichen
Wehmuth ergriffen. Sie war jung und
war einsam. Anfangs konnte sie ihre
Gedanken nicht ordnen, aber sie klärten
sich und gewannen Form, nachdem
tausend Jahre vergangen waren.

Sie fragte sich selbst:

»Warum muss ich hier allein steh’n,
wo andere Inseln sich zusammenscharen?
Warum muss ich Blumen und Bäume
entbehren, wo jene lange Zeiten des
Jahres damit prunken? Warum darf ich
niemand neben mir haben, dem ich
schmeichelnde Wellen und blumenduftende
Grüße senden könnte?«

Ihre Gedanken wurden von etwas
gestört, das sich oben auf ihrem Kopfe
bewegte. Dort wurde gemauert und ge-
hämmert, dort wurde gebrannt und ge-
schmiedet, Stein wurde auf Stein gelegt,
Eisenband wurde herumgegossen, und
dann sah sie zu ihrer Verwunderung
einen Thurm sich hoch oben erheben.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 115, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-09_n0115.html)