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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 116

Text

WICKSTRÖM: DIE KLIPPENINSEL.

Es war ein Leuchtthurm, den die Menschen
gebaut hatten. Er leuchtete weit umher,
und sie freute sich an seinem Schein.

Aber die traurigen Gedanken kamen
wieder, als sie ihn genug betrachtet hatte.
Seine schweren Mauern drückten auf
ihren Scheitel, sein Licht leuchtete immer
mit demselben Glanz, wurde angezündet
und ausgelöscht mit derselben unan-
genehmen Einförmigkeit.

Wieder klopfte ihr gewaltiges Stein-
herz bei dem Gedanken an das gemein-
same Glück der kleinen Inseln, und sie
fühlte sich so einsam, so bitter, so ver-
lassen einsam.

Und sie fragte: »Warum wurde mir
dieses schwere Los bescheert?«

Sie fragte die Sonne und den Himmel
und das Meer, aber die wussten nichts.
Die kümmerten sich nur um sich selbst.
Was hatten die mit einer nackten, rauhen
Klippe zu thun?

Eines Abends, als sie ihre zerklüftete
Seele diese ewige, sehnsuchtsvolle Frage
seufzen ließ, erhielt sie ganz unvermuthet
eine Antwort. Ein stöhnendes Flüstern
drang von dem Wrack eines Dreimasters
herüber, der am Abend vorher in un-
durchdringlichem Nebel an ihrem spitzigen
Mantelsaum gestrandet war, und die Ant-
wort lautete also:

»Du fragst, warum gerade Du so
einsam steh’n sollst hier in der Welt. Un-
verständige, Undankbare, Niedriggesinnte!
Siehst Du nicht das Licht, das von deinem
Haupte strahlt? Wie manche Nacht bin
ich in donnerndem Sturm an Dir vorbei
gesegelt und durch Dich vom Untergang
gerettet worden, bis der falsche Nebel
Dich besiegte in der letzten Nacht! Wie
manches Leben hast Du gerettet! Hunderte,
Tausende, von allen Ländern, von allen
Völkern! Du bist geschaffen, Licht zu
verbreiten und Menschenleben zu retten,
und doch kannst Du klagen!«

Das Wrack sank hinab in die Tiefe,
aber die Klippeninsel vergass seine Worte
nicht.

Eine stille Freude durchbebte ihr ge-
waltiges Herz. Sie lebte für das Licht,
für das Leben! Wie konnte sie dann
darüber klagen, dass das Los der kleinen
Inseln nicht ihr zu Theil geworden?
Schmeichelnde Wellen, duftende Blüten-

hauche, zärtliche Grüße über schmale
Sunde — was war das für sie, die eine
so hohe Aufgabe hatte!

Sie fühlte sich ruhig und zufrieden,
wie nie zuvor.

Aber das dauerte nicht lange. In
ihrem Innersten wuchsen allmälig Zweifel
auf. Es war ja schön und gut, dass sie
Licht verbreiten und das Leben der Ver-
irrten retten sollte, aber hatte denn das
Licht und das Leben so großen Werth?

Sie machte sich selbst Vorwürfe wegen
dieser Zweifel. Sollte nicht das Licht,
das herrlich glühende, Werth haben? War
nicht das Leben, das muthig streitende,
eine herrliche Gabe?

Aber die Zweifel lebten fort. Sie
wuchsen und wuchsen, schlugen immer
tiefere Wurzeln, trieben immer stärkere
Schlüsse.

War das Licht so herrlich? War
nicht das Dunkel, das selig einschläfernde,
weit lieblicher? War nicht der Tod, der
wahrhaft erlösende, noch schöner?

Und sie reifte heran unter diesen
Zweifeln, und die Zweifel reiften mit.
Als sie aber erwachsen dastanden, wie
harte Gedanken, war ihr Frieden für
immer dahin.

Sie warf wieder ihre Blicke auf die
kleinen Inseln, die zärtliche Küsse über
enge Sunde warfen, sich mit Blumenduft
umgaben, die Sonnenschirme der Baum-
kronen gegen die Hitze der Sonne hielten,
ihre grünen Grasbüschel in der klaren
See spiegelten, vor Liebe und Freude
lächelten und nicht fragten nach dem
Kampf zwischen Licht und Dunkel, Leben
und Tod, denn sie waren kurzsichtig ob
ihres kleinen Glücks und sahen nicht
weiter als bis dahin, wo die spiegel-
blanke Oberfläche aufhörte.

Da fühlte die Klippeninsel einen Stich
in ihrem gewaltigen Herzen. Ihre »Auf-
gabe«, du liebe Zeit! Ob sie den Nacht-
flor des Dunkels trüge oder den Tag-
schleier des Lichts, ob sie Leben oder
Tod schenkte — es war ihr ganz gleich,
denn dies alles hatte denselben Werth.
Das Glück der kleinen Inseln aber konnte
sie nie erlangen

Wenn der Sturm Steinfetzen aus
ihrem Leibe riss, that sie, als merkte sie

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 116, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-09_n0116.html)