Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 117

Die Klippeninsel Gerichts-Verhandlung (Wickström, Victor HugoAltenberg, Peter)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 117

Text

ALTENBERG: GERICHTS-VERHANDLUNG.

nichts, wenn der Regen ihre wehrlosen
Schultern bespülte, kam nicht ein Laut
von ihr, wenn die Sonne auf ihren
kahlen Scheitel brannte, schwieg sie
und litt.

Mit jedem Jahr, das ging, wurden
ihre bitteren Gedanken stiller, bis sie
zuletzt, verzehrt von Sturm, von Sonne
und Regen, hinabgerissen wurde in das
alles verschlingende Meer

GERICHTS-VERHANDLUNG.
Von PETER ALTENBERG (Wien).

»In welchem Zustande befand er
sich denn damals?!« sagte man.
»Schrecklich, etwa Absynth?!?«

Durchaus nicht. Der Vertheidiger
konnte keinerlei Entschuldigungen
aushecken. Er sagte blos einige
unangenehme Dinge über die Con-
stitution seines Clienten.

»Nun,« sagte der Richter zu
Herrn Serr, »wünschen Sie noch
etwas vorzubringen?!?«

Währenddessen saß Lisabeta auf
der Zeugenbank, in einem wunder-
baren seidenen Kleide. Ihre roth-
braunen Haare schimmerten und im
Auditorium saßen Viele, welche
Herrn Serr ziemlich beneideten
darum, dass er Lisabeta eines
Abends auf dem Spaziergange im
Walde brutalisiert habe.

Einer nur saß ganz bleich im
Auditorium da, tief krank, rechtete
gleichsam mit dem Schicksale, be-
gehrte auf

Herr Serr aber erhob sich auf
die Frage des Richters.

»Ich habe zu sagen! Drei Jahre
vor diesem Ereignisse saßen Lisabeta
und ich einmal nebeneinander bei
einem Souper. Da berührten meine
Kniee die ihrigen. Sie ließ es zu,
gab nach, machte mich seelig. Meine
Kniee und die ihrigen vermalten
sich, feierten Hochzeit!«

Der Richter: »Sie sahen aber
das Fräulein nicht wieder seit damals
bis zu dem Tage des Verbrechens!?»

Serr: »Ich sah Lisabeta nicht
wieder bis zu dem Tage des

Ereignisses. Von jenem Zeitpunkte
an jedoch, welchen ich erwähnte,
waren die latenten Spannkräfte
meines Nervensystemes — — — —«

Der Richter: »Lassen wir die
latenten Spannkräfte Ihres Nerven-
systemes — — —.«

Serr: »Von diesem Zeitpunkte
an war Alles in mir, wie die Moleküle
eines Eisenstabes durch den Magnet,
nach der Richtung dem Fräulein zu
verlegt und konnte eine andere
Position nicht mehr einnehmen.
Mein Organismus schien, gegen
die Intentionen meines Gehirnes und
meiner Seele, welche denselben zu
beschwichtigen und Alles wieder
zu applaniren suchten, mein Orga-
nismus schien von da an den Besitz
des Fräulein als sein unentrinnbares
heiliges Recht zu empfinden, wie
einen Notariats-Contract der
Natur
! So ereignete es sich in
meinem Leben. Amen.«

Lisabeta war entrüstet und
blickte ängstlich auf den bleichen
jungen Mann im Auditorium. »So
wird man belohnt für Freundlich-
keiten!? Pfui!«

Die Geschworenen verurtheilten
Herrn Serr. Einer nur verweigerte
seine Stimme auf »schuldig«.

Dieser kam nach Hause.

»Was hast Du?!« sagte seine
Frau beim Souper zu ihm.

»Nichts — — —« sagte er und
blickte auf seine blühende Tochter
hin, welcher das Leben und die

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 117, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-09_n0117.html)