Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 114

Stefan George: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod (Gundolf, Friedrich)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 114

Text

GUNDOLF: STEFAN GEORGE, DER TEPPICH DES LEBENS.

Holbein dem einzigen im rauhen sturme
Beschützt die glorienschar von Rhein und Maine
Und dorrt das land vom unfruchtbaren wurme:
Das heiligtum steht unberührt im haine.

Bescheidet euch mit alten leidensregeln!
Der glänz der war bringt wenn auch späte spende
Die geister kehren stets mit vollen segeln
Zurück ins land des traums und der legende.

Die »Lieder vom Traum und Tod« sind
Gesänge aus einem erfüllten Leben; keine
Entwicklung, sondern Ueberblick über das
Dasein vom Tode aus. Alle Triebe, deren
Läuterung die Sendung des Engels war,
sind hier gefriedet. Keine brennende
Sehnsucht drängt das Leben durch eine
leidenschaftliche Gegenwart einer um-
strittenen Zukunft zu; reine Trauer und
heilige Ergebung des Vollendeten sind
hier die Grundstimmung, und die Ver-
gangenheit gibt dem Scheidenden ihren
verklärten, doch ernsten Reichthum. Hier
ziehen Stunden und Tage vorüber, in
denen ein ganzes Leben gipfelte, deren
Gold das Heute noch schmückt, deren
Besitz den späteren Tagen noch Wert
verleiht. Da steigen Landschaften auf:
Holland, Italien, und die Summe mancher
Freundschaft, manches Lebensverhältnisses
wird gezogen. Nun wird bekannt und
besungen, was die Erlebnisse und Be-
gegnungen auf dem zurückgelegten Wege
dem ganzen Dasein raubten oder gaben
und was davon in das künftige über-
gerettet wird. So wirken alle Dinge
dieser Welt und alle Leidenschaften nur
wie in Visionen, denn alles Vergangene,
was unsere Seele sich zurückruft und
neubelebt, gewinnt fortan eine ganz andere
Wirklichkeit, als im unmittelbaren Genuss
oder Leiden. Die irdische, sinnlich ange-

schaute Welt wird eine höhere Einheit
mit einer nur geistig zu fassenden: der
Welt des Traums, so erscheint auch das
Erdeleben, welches bestimmten zu er-
forschenden Gesetzen unterliegt, erhöht
in ein völlig zeitloses und unbegrenztes
Reich; die Kraft des Dichters allein findet
in dem schöpferischen Geheimnis des
Rhythmus ein Mittel, das Unbegreifliche
uns so zur Anschauung zu bringen, dass
das flüchtigste: der Traum fest und
nothwendig erscheint, und dass zugleich
ein bedingtes Dasein rein und frei uns
wie ein sichtbar gewordenes Überirdische
erschüttert. Farbe und Linie umgrenzen
die Welt der Visionen nicht mehr, sie
scheint sich aus Tönen zu bilden oder aus
einer unerforschlichen Einheit alles Sinn-
lichen, einer Vergeistigung und Steigerung
aller Eindrücke dieser Welt. Aus solch
einer Einheit scheinen die sieben letzten
Gedichte des Werks, die beiden Trilogien,
Taggesang und Nachtgesang und das Lied:
Traum und Tod entstanden. Mit Traum-
deutlichkeit und Traumgeschwindigkeit
tönt hier das ganze reiche Leben vor-
über mit all den wechselnden Lichtern
und Gesichtern des Traums, der dasselbe
in jedem neuen Augenblick als ein Anderes
scheinen lässt; so mannigfach scheint in
diesen Gedichten das eine Leben:

So begannst du mein tag
Von verheissungen voll
Aus dem kindlichen thale
Ein jauchzen erscholl.

Du ergingst dich in strahlen
Bekränzt und erlaucht
Hast dein schimmerndes haar
Dann in blüten getaucht.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 114, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-09_n0114.html)