Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 113

Stefan George: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod (Gundolf, Friedrich)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 113

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GUNDOLF: STEFAN GEORGE, DER TEPPICH DES LEBENS.

suchten oder fanden die Deutschen
eine Cultur in dem oben erläuterten
Sinne. In der hellen Welt Italiens er-

warten die Bewohner des trüben Nordens
ihr Heil:

Der weihe land der väter paradies
Das sie erlöst vom nebeltraum im norden.

Das Sinnbild für dies Streben sind
die Romfahrer. Im »Kloster« gewährt
die gemeinschaftliche Abschliessung von
störenden Leidenschaften und gemeinem
Getriebe einen heiligen Frieden. Das
Wahrzeichen ist das Symbol für den
ewigen unverletzten Hort der Schönheit,
der Kunst. In einem Dichter hat der
deutsche Geist sich selbst erlöst, einem
Dichter, der ihn am vollständigsten im
Guten wie im Bösen spiegelt, der in sich
zugleich das zu Erlösende und die Er-
lösung frägt: Jean Paul.

Alle diese Gestalten sind zeitlich oder
national bedingt: geschichtliche Sinnbilder
als Gipfel eines Entwicklungsabschnittes
bedeutend. Die sechs letzten Gedichte
des »Teppichs« geben Typen, welche,
der ganzen Menschheit angehörig, auch
in jede einzelne Cultur eingreifen: ewige
Urbilder, Standbilder, wie der Dichter
sie nennt. Als das letzte derselben ist
der Dichter aufgestellt: die Magie des
Dichters als Culturelement, als Macht in
der Entwicklung der Menschen, als Be-
freiung und Bändigung des Lebens. Das
Gedicht berührt das erste wieder; wie
dort das Werk verkündet wird, so hier
die Kraft, welche es schuf. Die Cultur
als Kunstgebilde ist eingeschlossen zwischen
die zwei Gesänge von der Macht des
Künstlers.

Ohne Requisiten und den beschrei-
benden Bedarf des Historikers sind die

Zeiten und ihr Gehalt in diesem Werke
nachgebildet, allein durch die Gegenwart
der Lebensstimmung. Alle Fülle vergan-
gener Cultur ist dem Geiste und Gemüth
des Dichters noch immer lebendig und
sein eigenes Leben mit ihr gesättigt. In-
dem er zu den Ursprüngen des Volkes
zurücksteigt und dessen Entwicklung
nachlebt, stellt er zugleich die Elemente
dar, aus denen er sein Dasein genährt,
erweitert seine Cultur zu der seines
Volkes. So wird eigentlich durch jeden
wirklichen Dichter das Individuelle durch-
brochen und eine erhabene Einheit her-
gestellt zwischen dem Allgemeinen und
dem Einzelnen. Ohne dies wäre ja ein
solches Werk kein von innen heraus-
gewachsenes lebendiges, wie es ist, sondern
ein von aussen aufgebautes, hätte viel-
leicht einen wissenschaftlichen, keinen
künstlerischen Wert. Ganz anders als die
gewöhnlichen historischen Balladen wur-
zeln diese Gedichte in dem Leben ihres
Schöpfers, da sie ja keine vergangenen
Geschehnisse enthalten, welche seine Kunst
wieder scheinbar oder schön mache,
sondern Früchte seiner eigenen Seele
und in seinem eigenen Leben noth-
wendig, wie in dem seines Volks. Sie
handeln auch nicht von Begebenheiten,
sondern von ewig wirkenden Trieben;
sie wenden sich unmittelbar mahnend,
tröstend, zürnend an die Menschen, die
Deutschen. Z. B.:

So ist bei euch das los: nach kurzen fristen
Der stolzen blüte hausen lichtverächter
Mit rohem schwärmen und die vipern nisten,
Nur heimlich sind dem zarten Keime wächter.

Dann sucht der frühen bildner herbe wonnen
Und holt euch rates wie sich mut gewinne
Vorm keuschen zauber heimischer Madonnen
Und eurer ganzen Schönheit höchster zinne.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 113, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-09_n0113.html)