Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 112

Stefan George: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod (Gundolf, Friedrich)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 112

Text

GUNDOLF: STEFAN GEORGE, DER TEPPICH DES LEBENS. DER TEPPICH.

Hier schlingen menschen mit gewächsen tieren
Sich fremd zum bund umrahmt von seidner franze
Und blaue sicheln weisse sterne zieren
Und queren sie in dem erstarrten tanze.

Und kahle linien ziehn in reich gestickten
Und teil um teil ist wirr und gegenwendig
Und keiner ahnt das räthsel der verschickten
Da eines abends wird das Werk lebendig.

Da regen schauernd sich die toten äste
Die wesen eng von strich und kreis umspannet
Und treten klar vor die geknüpften quäste
Die Lösung bringend über die ihr sannet.

Sie ist nach willen nicht! ist nicht für jede
Gewohnte Stunde: ist kein schatz der gilde.
Sie wird den vielen nie und nie durch rede
Sie wird den seltnen selten im gebilde.

Die beiden ersten Gedichte: »Urland-
schaft« und »Freund der Fluren« geben
uns die Cultur noch als ursprüngliche
Eintracht, als den Zustand, aus dem eine
Befreiung nicht ersehnt wird, da er den
Lebenden angemessen ist. In der »Urland-
schaft« sind sie mit einer anfänglichen
Natur als ihrer selbstverständlichen Welt
heraufgewachsen. Der Typus des anderen
Gedichtes hat sich den ihm möglichen
Zustand völliger Freiheit geschaffen: seine
gepflegten Fluren. Aus dieser Eintracht
mußte doch der Streit der elementaren
Natur mit der bezwingenden und ein-
schränkenden Kraft entstehen. Jener Ur-
drang sucht aus der Haft des Bezwingers
vergeblich Freiheit bei den zügellosen
Elementen: »das Gewitter«. »Die Fremde«
findet ihre dunkle Erfüllung im Ver-
schwinden von einer ihr feindlichen,
klaren, ihrer dämonischen Heimat ent-
gegengesetzten Sfäre. Als Widerspiel zu
der Welt der kämpfenden Triebe und
weniger eingreifend in die Entwicklung
als sie begleitend erscheinen die leiden-
schaftslosen Hämmer. Sie finden in sich
und ihrem Wahn eine schmerzlose Er-
füllung und sind ein Symbol für ein be-
haglich alterndes oder ältelndes Nieder-
gangsgeschlecht. Der Trieb der Elementar-
kräfte zu eigenem Leben, welcher im »Ge-

witter« und der »Fremden« fast allegorisch
dargestellt war, wiederholt sich innerhalb
einer gebändigten Welt beim Einzelnen, bei
geistigen Gruppen, bei einem ganzen Volk.
Die Sünde eines gothisch frommen und
düsteren Mittelalters findet ihre Erlösung
in der Hingabe an das christliche Wunder;
die Sünderin des leichten und spielenden
Rokoko erfüllt ihr Leben nur im frei-
willigen Tod nach bunten Festen. Den
Entsagenden stehen die gewaltsamen,
unbedingt Bejahenden gegenüber, welche
von innerer Last durch leidenschaftliche
That sich befreien: die »Verrufung«, der
»Thäter«. Neben der Entsagung und der
That ein drittes Heil ist die Hingebung.
Die nichts Übermächtiges zu fliehen
haben, nichts Feindliches zu vertilgen,
gehen in einem Höheren gerne auf,
welches sie nicht von sich weist. So die
»Schmerzbrüder«, mit einem schmerz-
lichen Geschick sich in Einklang setzend,
der Jünger in seinem Herrn beseligt.
So findet der Erkorne seine Cultur frühe
in der Verehrung der Meister und in
ihrer Liebe, ihrem Lob; so sucht sie der
Verworfene vergeblich im augenblicklichen
Genuss eines leeren Beifalls. Von den
Trieben der einzelnen Typen einer Cultur
steigt der Dichter zu den Bewegungen
des ganzen Volkes. Auf vier Arten

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 112, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-09_n0112.html)