Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 124

Occultismus und officielle Wissenschaft Die moderne Kunst in Frankreich seit 1870 (Seiling, Max, Prof.Mauclair, Camille)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 124

Text

MAUCLAIR: DIE MODERNE KUNST IN FRANKREICH SEIT 1870.

offenbar vom hochmütigen Wahne dic-
tirt, dass das System der modernen
Wissenschaft fix und fertig ist. Denn,
wer nur halbwegs unbefangen und be-
sonnen ist, müsste im Gegensatz zu Wundt
sagen: »Angenommen, mit diesen und
jenen neuen Erscheinungen habe es seine
Richtigkeit, dann muss es eben noch un-
bekannte Naturgesetze geben, welchen
diese Erscheinungen entsprechen,
wenn sie auch den bekannten Natur-
gesetzen zu widersprechen scheinen.«
Jedermann weiß, dass die Schwerkraft
unter Umständen vom Magnetismus über-
wunden wird; warum sollten diesem Bei-
spiele der scheinbaren Aufhebung eines
Naturgesetzes mit der Zeit nicht noch
andere an die Seite treten können?

In der That hat du Prel, namentlich
in seinem letzten großen Werke, »Die
Magie als Naturwissenschaft«, bereits ge-
zeigt, dass es sich bei den okkulten
Phänomenen lediglich um »unbekannte
Naturwissenschaft« handelt. Diese
Wissenschaft führt nun freilich — und
zwar auch ohne allen Spiritismus — zur
Ueberzeugung von der Fortdauer des
menschlichen Wesenskernes nach dem
Tode. Man wird nicht fehl gehen, wenn
man in diesem Umstande einen weiteren
und vielleicht den tiefsten Grund erblickt,
warum die moderne Naturwissenschaft
den Okkultismus in so auffälliger Weise
theils ignorirt, theils bekämpft; denn sie
steht im Großen und Ganzen fortan unter
dem Zeichen des Materialismus, mag dieser
auch ein feinerer geworden sein.

DIE MODERNE KUNST IN FRANKREICH SEIT 1870.
EIN RÜCKBLICK.
Von CAMILLE MAUCLAIR (Marseille).

Das Studium der Kunstbewegungen
Frankreichs seit dreißig Jahren erscheint
auf den ersten Blick verwickelt, viel-
gestaltig, schwer zu erklären und zu
classificieren. Und thatsächlich sind sie
ja auch wirklich äußerst mannigfaltig.
Die französische Sensibilität ist, vom
Auslande aus gesehen, eine außer-
gewöhnlich launenhafte. Man bemerkt
viele merkwürdige und persönliche Tem-
peramente, doch der Beobachter vermisst
die Einheitlichkeit. Nie trug eine Be-
wegung einen stärkeren Stempel der Ner-
vosität; nie gab es zu gleicher Zeit mehr
talentvolle und dabei unruhige Köpfe. Im
allgemeinen ist ganz Europa zu Ende
dieses Jahrhunderts das Zeichen einer
unglaublichen Entwicklung der Sensibilität
zum Schaden der Logik in der Compo-
sition und Construction aufgeprägt, und
Frankreich hat diesen Impuls ganz be-
sonders empfunden. Trotzdem braucht

man sich nur, um die Richtungen der
modernen französischen Kunst klar und
deutlich zu begreifen, an zwei allgemeine
Ideen zu erinnern: die Kunst der un-
mittelbaren Sensation oder Impressionis-
mus; die Kunst der ideologischen Con-
ception oder Symbolismus. Diese beiden
Kunstformen haben zwei große Katego-
rien von entgegengesetzten schöpferischen
Geistern hervorgebracht; und zwischen
beide haben sich einige merkwürdige
Künstler eingeschlichen, die beide Ten-
denzen zu versöhnen bemüht waren. Im-
pressionismus und Symbolismus sind die
beiden Schlüssel der modernen französi-
schen Kunst.

Der Impressionismus hat Frankreich
bekanntlich eine leuchtende Glorie ver-
liehen. Er hat Männer ersten Ranges und
eine Reihe wunderbarer Werke hervor-
gebracht. Er ist im Jahre 1860 ent-
standen und neigt sich jetzt kaum dem

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 124, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-09_n0124.html)