Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 131

Die moderne Kunst in Frankreich seit 1870 (Mauclair, Camille)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 131

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MAUCLAIR: DIE MODERNE KUNST IN FRANKREICH SEIT 1870.

absolute Lebenskenntnis stützt. Ein edler
Charakter und nach Rodin die leuchtendste
Glorie der französischen Bildhauerkunst.
— Getrennt erwähnen muss man noch Al-
bert Bartholomé. Er war Maler; der
Tod seiner Frau, der ihm einen untröst-
lichen Schmerz bereitete, veranlasste ihn,
Bildhauer zu werden, um ihr ein gewal-
tiges Monument errichten zu können. Der
Gedanke erweiterte sich nach und nach,
während er seine Kunst erlernte, und
Bartholomé beschloss, »den Todten« ein
Monument zu schaffen. Er brachte etwas
Wunderbares zustande; denn dieses Monu-
ment, das man vor Kurzem am Eingange
eines großen Pariser Friedhofes aufgestellt,
ist eines der erhabensten französischen
Werke, die im Laufe der letzten 30 Jahre
geschaffen worden. Bartholomé hat außer-
dem einige Figuren von rührender Zart-
heit geformt. Was soll man schließlich
von Rodin sagen? Man kann die erstaun-
liche Laufbahn dieses großen Mannes, der
seit 30 Jahren Meisterwerke schafft und
noch auf der Höhe des Ruhmes, an der
Schwelle des Greisenalters die Kraft ge-
funden, seine Auffassung umzugestalten,
nicht in einigen Zeilen erschöpfen. Rodin
hat sich seit dem Denkmal Victor Hugo’s
und der berühmten Balzacstatue ent-
schlossen, seine Technik zu vereinfachen,
zu dem Stile und den Traditionen des
gothischen Mittelalters zurückzugehen und
die Theorie des Modells völlig umzubilden.
Seine Ideen (gleich leidenschaftlich ver-
urtheilt wie gepriesen) geben eine künstle-
rische Gesammtauffassung von wunder-
barer Cohäsion und Schönheit und werden
die Quelle einer neuen Schule decorativer
Bildhauerei werden, die sich jetzt schon
kräftig entwickelt. Rodin protestiert gegen
die Kleinlichkeiten der »officiellen« Sculp-
tur, gegen die minutiöse und realistische
Wiedergabe der Modelle. Sein nervöses,
düsteres, sinnliches und fieberhaft ideali-

stisches Genie ist dem Geiste Baude-
laire’s und Schumann’s nahe ver-
wandt. Er ist die erhabenste Gestalt der
französischen Kunst, seit Puvis de Cha-
vannes todt ist.

Dies wäre — stark zusammengedrängt
— eine allgemeine Übersicht über die
moderne Malerei und Sculptur in Frank-
reich und über die verschiedenen Ideen,
die darin aufeinanderstoßen. Man kann
als Schlussfolgerung sagen, dass die im-
pressionistische Kunst durch ihre zähe
und mutige Unabhängigkeit eine wunder-
bare Generation hervorgebracht hat. Nie
hat es mehr Talente in Frankreich ge-
geben und nie mehr Abstufungen im
Talent. Der Realismus und der Idealis-
mus scheinen sich jetzt (auch in den
redenden Künsten) zu einem neuen Princip
zu verschmelzen, das ich vor zehn Jahren
den Ideo-Realismus genannt habe.
Er hat das moderne Frankreich durch
das Genie Verlaine’s, Rodin’s, Puvis de
Chavannes’ mit einigen unsterblichen
Werken beschenkt und wird es vielleicht
auch die nächsten fünfzig Jahre beherr-
schen. Das Hauptprincip des französischen
Modernismus ist folgendes: Die Schönheit
besteht nicht in einem theoretischen Ideal
der Form; sie besteht im Ausdruck
und Charakter, in der Befreiung der
Seele
durch die wahre und leben-
dige (in ihren originellen Seiten studierte)
Form. Das ist der Umsturz der akademi-
schen Ideen. Ein freier Hauch geht von den
Ateliers in New-York oder Baltimore zu
denen von Glasgow, Stockholm, Paris
oder München. Nur die englische Schule
und einige russische Maler, die einem
Victor Wasnetsoff Gefolgschaft leisten,
bleiben der rein formalen Ästhetik treu.
Die gegenwärtige Zeit aber ist die Ver-
herrlichung des Ausdruckes und der Sen-
sibilität zum Schaden der Logik und des
Classicismus.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 131, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-09_n0131.html)