Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 130

Die moderne Kunst in Frankreich seit 1870 (Mauclair, Camille)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 130

Text

MAUCLAIR: DIE MODERNE KUNST IN FRANKREICH SEIT 1870.

Bestrebungen; der reine und einfache
Realismus, die photographische Nach-
ahmung der Natur, die einen Augenblick
mit Bastien-Lepage und seinen
Schülern (1875) in Gunst gestanden, ist
aufgegeben; die religiöse Malerei schleppt
sich dahin; und nur Dagnan-Bou-
veret sucht sie zu modernisieren, indem
er wie Uhde den biblischen Gestalten
moderne Costume anlegt; die Historien-
malerei hat nur einen Vertreter von Talent,
Rochegrosse; der Symbolismus ist un-
fruchtbar, und das »officielle« Talent ist
nicht einmal erwähnenswert. Benjamin
Constant und Carolus Duran sind
ebenso mittelmäßige wie angesehene
Porträtisten der vornehmen Welt. Die
schöne nationale Tradition wird in
der Entwicklung der vom Impressionismus
geschaffenen Sensibilität kräftig weiter-
leben. Nie hat eine künstlerische Be-
wegung eine segensreichere Thätigkeit zur
Folge gehabt. Es war ein wahrer Ein-
bruch von Jugend und Licht in das
geistige Dunkel der Formelmalerei.

Wenn ich nun zur Sculptur komme,
muss ich zuerst feststellen, dass hier, wie
in der Malerei, die Abschaffung der Schule
und das Aufblühen der individuellen Tem-
peramente eine deutliche Thatsache ge-
worden ist. Es hat in Frankreich zu An-
fang dieses Jahrhunderts einen genialen
Mann: Rude, in der Mitte ein anderes
Genie: Carpeaux und gegen Ende des
XIX. Jahrhunderts ein drittes Genie: Au-
guste Rodin gegeben, und um diese drei
Gewaltigen bewegen sich Generationen
talentvoller Männer. Rude ist das heftige
und tragische Genie, dem das herrliche
Basrelief des Arc de Triomphe zu Paris
und das Bronze-Haûtrelief in der Umge-
gend von Dijon zu danken ist. Er ist der
fieberhafte und kraftvolle Lyriker par ex-
cellence. Carpeaux ist das milde, zarte,
liebende und glückliche Genie, der Poet
der »Flora« (Louvre), des »Tanzes« (große
Oper, Paris) und vieler anderer Meister-
werke. Rodin kehrt anfänglich zu Rude
zurück, dringt dann aber als Schöpfer in
bisher unbekannte Gebiete vor. Zwischen
diese wahrhaft großen Männer treten be-
deutende Bildhauer: der Thierbildhauer
Barye schärft Werke ersten Ranges, auch
Clésinger bringt schöne Stücke zuwege.

Die moderne Generation zeugt einige inter-
essante Naturen, wie Allonard, Lujal-
bert, Barrias; doch muss man bis zu
Carriès vordringen, um auch im Wirken
der Bildhauer eine Spur der impressio-
nistischen Bewegung wiederzufinden. Jean
Carriès, der leider sehr jung gestorben,
hat neben guten bildhauerischen Werken
eine ganze Kunst der Töpferei und Keramik
von überraschender Originalität geschaffen.
Er ist der große Neuschöpfer der polychro-
men Bildhauerkunst in Frankreich. Neben
ihm entwickelt sich eine bedeutende Be-
wegung der decorativen Kunst. Fast alle
modernen Bildhauer haben sich seit Carriès
mit diesem (ihrer Kunst parallel laufenden)
Zweige beschäftigt. Alexander Charpen-
tier und Pierre Roche sind in diesem
Sinne die beiden interessantesten unserer
Künstler. Der eine schafft bekanntlich
(außer Statuen) Medaillen, Gefässe, Koffer,
Zinn- und Töpferwaren; der andere macht
Einbände, industrielle Kunstgegenstände,
Glaswaren und Alles, was mit der Kunst
des Feuers zusammenhängt. Der erste hat
ein kräftiges Temperament, der zweite
zeichnet sich durch eine Zartheit aus,
die dem subtilen Sinne der Japaner eng
verwandt ist. Man muss auch den jungen
Holzschnitzer Carabin und Jean Dampt
anführen, der treffliche Büsten geschaffen
und daneben auch herrliche Ciselierarbeiten
und Kunstmöbel geliefert hat. Gardet,
der kürzlich bekannt wurde, ist ein Thier-
bildhauer von origineller Technik. Denys
Puech scheint mir dem Typus des an-
mutigen, zierlichen Bildhauers anzugehören,
der eben nur über eine reizende und gebrech-
liche Eleganz verfügt. Falguière, der außer
Stande ist, ein gewaltiges Werk zu schaffen,
genügt doch für edelgeformte Statuen; er
repräsentirt den Mann von Talent, von
großem, geschmeidigem Talent, der aber
doch über eine intelligente, verführerische
Conception nicht hinauszukommen ver-
mag. Antonin Mercié ist declamatorisch,
übertrieben und eher für die ornamentale
Sculptur als für die Werke des concen-
trierten Denkens und Gestaltens geschaffen.
Dalou, der das Quartett der hochberühm-
ten Bildhauer vervollständigt, ist der kraft-
vollste und originellste unter ihnen. Er
ist ein Künstler von begeisterter Inspira-
tion und robuster Technik, die sich auf

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 130, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-09_n0130.html)