Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 129

Die moderne Kunst in Frankreich seit 1870 (Mauclair, Camille)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 129

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MAUCLAIR: DIE MODERNE KUNST IN FRANKREICH SEIT 1870.

langt, dass eine Idee mit der beständigen
Stütze einer logischen und minutiösen
Realität vorgeführt werde. Die französische
Kunst, die wohl über Phantasie verfügt,
vermag das Chimärische, die reine Ab-
straktion nicht zu ertragen.

Ich komme jetzt zur officiellen und
akademischen Malerei. Diese ist nicht
ganz zu verwerfen. Sie umfaßt allerdings
eine große Anzahl von Mittelmäßigkeiten,
die keineswegs ihre Ehrenstellen verdienen
und gleich nach ihrem Tode der Ver-
gessenheit anheimfallen werden. Doch es
gibt auch einige interessante Individuen
darunter, denen es möglich wird, sich
trotz den beklagenswerten Wirkungen
einer schlechten künstlerischen Erziehung
auszuzeichnen. Der officielle Unterricht,
der in der Schule der Schönen Künste
und in Rom erteilt wird, ist abscheulich
und hat viele junge Intelligenzen ruinirt.
Man muss auch erwähnen, dass diese
officielle Schule auf technische Kritiken
stets in der heftigsten Erregung und mit
der ungerechtesten Verachtung antwortet,
ja, dass sie ihre Autorität in den Regie-
rungskreisen sogar dahin benutzt, um in
die Carrière und das Leben Derer, die
nicht wie sie denken, störend einzugreifen.
Als die Freunde Manet’s und Whistler’s
im Jahre 1894 sich vereinigten, um dem
Luxembourg-Museum zwei schöne Werke
dieser Künster zu überreichen, protestierten
die akademischen Maler; im Jahre 1896
hinterließ ein Freund der Impressionisten,
Gustave Caillebotte, selbst ein talentvoller
Maler, demselben Museum bei seinem
Tode eine wunderbare Bildersammlung,
in der sich Werke von Manet, Monet,
Degas, Renoir und Anderen befanden; doch
das Institut machte sich lächerlich, indem
es in corpore gegen das Eindringen einer
Kunst, die schon an sich die Negierung
jeder Lehrmethode sei, energisch prote-
stierte. Man brauchte ein Jahr, um diese
Liga zu besiegen und die Gemälde durch-
zusetzen. Dieselben moralischen Klein-
lichkeiten passieren offenbar überall, in
der Schule zu Düsseldorf einem Len-
bach oder einem Klinger, wie in der
Schule zu Anvers einem Constantin
Meunier; sie sind unzertrennlich von
dem Geiste des Dogmatismus in der Kunst,
die doch der Individualismus selbst ist.

Bouguereau, Bonnat, Gérôme,
Cabanel, Detaille, Lefebure sind
offenbar langweilige und unbedeutende
Maler, deren unleugbares Wissen den
Mangel an Geschmack und Originalität
nicht ausgleicht. Doch Hébert hat einige
edel ausgeführte Porträts geschaffen und
Henner ist trotz einer bedauernswerten
Eintönigkeit der Mittel ein wahrer Poet
des nackten Weibes, das er mit dem
warmen Colorit eines Giorgione im Verein
mit der unklaren Träumerei eines Prudhon
malt. Jean Paul Laurens hat sich durch
seine mächtigen Gemälde, die eine düstere
und reiche Farbe und eine edle und
lebendige Composition aufweisen, den
wohlverdienten Ruf eines hochbedeutenden
Historienmalers erworben; er hat diesem
Genre der Historienmalerei, das man heute
in Frankreich als ästhetischen Irrtum
fallen gelassen hat, fast neues Leben ein-
gehaucht. Das moderne französische
Princip, das ganz und gar auf der von
dem Kunstwerke gegebenen Emotion und
Sensation beruht, sucht Sujets von allge-
mein-menschlichem und unmittelbarem
Interesse und verwirft die ausgeklügelte Dar-
stellung einer alten Scene, deren Emotion
uns nicht mehr bewegt. Das führt mich
dazu, auf die wunderbare Ausnahme hinzu-
weisen, die Georges Rochegrosse
bildet. Rochegrosse, ein leidenschaftlicher
Historienmaler, sucht unter wechselnder
Außenseite (antike Decorationen, Costume)
die feststehenden Wahrheiten des Lebens
sichtbar zu machen. Er ist von allen
unseren Malern derjenige, der durch den
Reichtum der Farbe, das Hinreißende
seiner Composition und die Vorliebe für
auffallende Effecte am meisten an Delacroix
erinnert. Gleichzeitig berühmt und unge-
recht beurteilt, steht auch er vereinzelt
da, denn den Officiellen bleibt er ebenso
fern wie den Impressionisten. — Noch einen
sehr bemerkenswerten jungen, decorativen
Maler will ich nennen, der von der offi-
ciellen Schule gekommen und sich von
ihr freigemacht hat, Henri Martin, den
Schöpfer sehr harmonischer Wandmale-
reien; ferner zwei Landschafter von trauri-
gem und durchdringendem Zauber, Cazin
und Pointelin, die von Corot stammen.

Man sieht also: der Impressionismus
absorbiert die ungeheure Mehrzahl der

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 9, S. 129, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-09_n0129.html)