Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 165

Das göttliche Alphabet (Spreti, Adolf Graf von)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 165

Text

DAS GÖTTLICHE ALPHABET.
Von ADOLF GRAF SPRETI (Starnberg).

Welches ist das endliche Schicksal des
Menschen nach dem Tode? — So fragten
schon vor Jahrtausenden unsere Vorfahren,
und so fragen sich auch heute noch alle
denkenden Menschen. Die Art und Weise,
wie die Lösung dieser Frage versucht
wurde, gab zugleich auch den Grundton,
auf welchen die einzelnen philosophischen
und religiösen Systeme von altersher ge-
stimmt waren, die wir infolgedessen in
zwei Haupt-Kategorien scheiden können,
nämlich: in solche, welche, auf ganz
materieller Basis aufgebaut, jedes Fortleben
nach dem Tode leugnen, und zweitens
in solche, welche die geistige Wesenheit
des Menschen anerkennen und demnach
an eine ewige Fortdauer des wahren
Wesenskernes desselben nach dem Tode
des Leibes glauben.

Aber auch unter der zweiten Kategorie
theilen sich die Ansichten, und wir haben
hier zu unterscheiden: a) zwischen Lehren,
welche eine individuelle Fortdauer der
Menschenseele (richtiger gesagt: des Geistes)
annehmen, und b) zwischen Systemen,
welche behaupten, dass der Menschengeist
ein Ausfluss des Geistes Gottes sei, und
ebenso, wie er aus demselben hervorge-
gangen, endlich auch wieder mit voll-
ständiger Aufgabe seiner Individualität in
denselben zurückkehren müsse, um im
»großen Eins« völlig aufzugehen.

Letztere Anschauung wird insbesondere
in der indischen Philosophie im System
des Vedânta vertreten, welcher Lehre zu-
folge außer âtmâ absolut nichts wahre
Wirklichkeit und Wesenheit besitzt, und
alles Vorhandene nur ein Ausfluss desselben
ist, um nach einem umfassenden Kreislauf
wieder zu demselben zurückzukehren und
vollständig von ihm absorbiert zu werden.

Deswegen begegnen wir in dieser Lehre
auch so häufig Gleichnissen und Bildern,
z. B. vom Wassertropfen, der im Meere
verschwindet; vom Sonnenstrahle, der wieder
zur Sonne zurückkehrt, u. dgl. m.

Für Europäer und Christen hat diese
Lehre von der völligen Vernichtung der
Individualität wenig Anziehendes; ja, sie
scheint mir sogar die ganze Frage über
Ziel und Zweck unseres Daseins nur noch
schwieriger und verwickelter zu gestalten;
denn, wenn wir nur geschaffen sind, um
nach einer fast endlosen Reihe mühseliger
Erdenleben und schwerer Prüfungszeiten
endlich wieder mit Verlust jeglichen indi-
viduellen Bewusstseins im großen Eins,
d. i. in Gott aufzugehen, so fällt es uns
schwer, den Sinn dieser Schöpfung mit all
ihren Mühsalen und Kämpfen zu deuten.

Ganz anders sieht sich die Sache an,
wenn wir diese Lehre nicht im strengsten
und schroffsten Sinne des Eins, sondern
mehr im Sinne einer Einheit auffassen,
wofür dann zur Erläuterung und Veran-
schaulichung folgendes Gleichnis dienlich
sein könnte.

Dem mir vorschwebenden Bilde liegt der
dem christlichen Europa ganz geläufige
Gedanke zugrunde, demzufolge Gott als
das Alpha und Omega alles Seins, d. h.
als der Anfang und der Schlusstein aller
Schöpfung betrachtet wird. Dies schließt
aber auch in sich, dass dieser schaffende
Gott allem und jeglichem den Stempel
seines Seins aufgedrückt hat, dass im
ganzen Universum absolut nichts zu finden
ist, was nicht Zeuge seines Geistes und
Ausfluss seines Wesens ist. So hätten wir
uns also Gott, von einer seiner Seiten
betrachtet, nicht nur als den Gesammtinhalt
des Alphabets, sondern auch aller der
unendlich mannigfaltigen, durch dasselbe
vom Anbeginn der Zeiten schon zum Aus-
drucke gelangten und bis ans Ende der
Zeiten noch zum Ausdrucke gelangenden
Worte und Wortverbindungen mit allen
in ihnen liegenden Schattierungen und
Klangfarben, ja auch aller durch die ein.
zelnen Buchstaben und deren Verbindungen
entstehenden und möglichen Zahlenworte
vorzustellen. Hiedurch erhalten wir aber

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 165, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-11_n0165.html)