Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 166

Das göttliche Alphabet (Spreti, Adolf Graf von)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 166

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SPRETI: DAS GÖTTLICHE ALPHABET.

ein so unendlich großartiges, für das
Fassungsvermögen unseres menschlichen
Gehirns ganz unbegreiflich umfassendes
Bild von schöpferischer Mannigfaltigkeit
und Abwechslung, gegenseitiger Wechsel-
beziehung und Verbindung und doch
wieder individueller Selbständigkeit, dass
es wohl geeignet sein dürfte, als Symbol
für die ewige, unendliche und alle Begriffe
übersteigende Größe und Erhabenheit des
göttlichen Schöpfungsgedankens zu dienen,
in welchem potentiell von Ewigkeit schon
alle je zutage tretenden Schöpfungs-Ideen
vorhanden waren.

Als der »Herr« im Anfange der Zeiten
diesen Ideen Gestalt zu geben beschloss,
und das Wort: »Es werde« sprach,
da war für ihn auch schon alles, was
den Inhalt der ganzen Schöpfung bildet
und je noch bilden wird, bereits ge-
schaffen — denn nur für uns, der Zeit
entsprossenen und mit Zeitbegriffen rech-
nenden irdischen Menschen ist das Früher
und Später, das Aufeinanderfolgen der
Ereignisse Naturgesetz; vor ihm stand
schon in jenem Augenblicke das ganze
Alphabet vom Α bis zum Ω mit all seinen
nur irgend möglichen Zusammensetzungen
als ein einiges harmonisches und wohl-
klingendes Ganzes da.

Solange nun diese Harmonie aufrecht-
erhalten wurde, d. h. solange jeder einzelne
Buchstabe an seinem richtigen Platze
stand, den rechten Wort- und Zahlenwert
im Buche des Lebens repräsentierte,
herrschte der sogenannte paradiesische
Zustand; die ganze Schöpfung bildete ein
einiges Ganzes, das der Herr mit Wohl-
gefallen betrachtete, denn er fand ja selbst,
»dass es gut war«.

Aber dieser Zustand sollte nicht ewig
dauern; es trat eine Störung ein (der
biblische Sündenfall), das wohlgeordnete,
zur herrlichsten Poesie des Himmels zu-
sammengestellte und in Sphärenmusik er-
tönende Alphabet zerfiel in seine Theile,
die nun im bunten, wirren Durcheinander
lagen, ihren wahren Sinn und ihre Be-
deutung verloren hatten und zur unleser-
lichen Schrift geworden waren. Die ein-
zelnen Buchstaben aber dieses himmlischen
Schöpfungs-Epos waren die Keime der
einzelnen Menschenseelen.

Jetzt, nachdem die Einheit vernichtet,
die Harmonie zerstört ist, muss das Ganze
wieder mühevoll geordnet und zusammen-
gestellt werden. Weil aber der Zusammen-
bruch des Ganzen nur durch die Schuld
der Gesammtheit veranlasst und möglich
war, so muss nun auch jeder einzelne
durch eigenes Streben seinen richtigen
Platz im himmlischen Alphabet wieder
zu erringen trachten, sich mühevoll zu
ihm emporschwingen und neuerdings von
ihm Besitz ergreifen. Jeder einzelnen Seele
obliegt die Aufgabe, den ihr vom Anbeginn
angewiesenen Platz in einem ihrer Indi-
vidualität entsprechenden Worte zu suchen,
das auch in Klangfarbe und Zahlenwert
genau ihrer wahren Wesenheit entspricht,
wodurch sie zur allmählichen Wieder-
herstellung der großartigen, allgemeinen
Sphären-Harmonie, die dem ursprünglichen
»Werde-Gedanken Gottes« wieder
entspricht, beiträgt.

Bei einer solchen Anschauung der
Dinge bleibt, wie das Gleichnis zeigt, der
grundlegende Einheitsgedanke gewahrt;
im Rahmen dieser Einheit ist jedoch
Raum genug vorhanden für den Gedanken,
dass jeder einzelne nicht nur hier auf
Erden eine ganz bestimmte Aufgabe zu
erfüllen hat, sondern auch nach dem
Tode im Jenseits sich dem großen
Eins
(dem göttlichen Alphabet) in einer
ganz bestimmten, nur für ihn allein passen-
den, ihm allein möglichen Art an- und
eingliedern muss, wobei er dann trotz
seiner Einheit mit dem Ganzen doch die
Individualität seines eigentlichen Ichs be-
wahrt, welche nur an diesem Platze und
in dieser Umgebung zu harmonischer
Entfaltung, zu vollendeter Reife, d. h.
zu wahrer Seligkeit gelangen kann.

Sollte wirklich noch ein höherer Grad
von Seligkeit möglich und uns ein noch
höheres Ziel gesteckt sein, so liegt dies
jedenfalls so unendlich hoch über unserem
irdischen Begriffsvermögen erhaben, dass
wir als Erdenbürger gar nicht fähig sind,
uns mittelst unseres beschränkten Ver-
standes eine Vorstellung davon zu machen.
Jedenfalls genügt es, wenn wir uns für
die Zeit unseres Erdenlebens das Ziel
setzen, den uns angemessenen Platz im
göttlichen Alphabet wieder zurückzu-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 166, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-11_n0166.html)