Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 181

Das tönende Phänomen in der Natur II. (Bailly, Edmund)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 181

Text

DAS TÖNENDE PHÄNOMEN IN DER NATUR.
Von EDMUMD BAILLY (Paris).
II. DIE HARMONIE DER SPHÄREN.

Der Ton oder das Geräusch verhält
sich zur Stille, wie die Wärme zur Kälte,
wie das Licht zur Finsternis. Aber dass
auf unserem Planeten in gewissen Augen-
blicken jegliche tönende Manifestation fehlen
könnte, ist ebenso unmöglich, wie die
absolute Finsternis oder die absolute Kälte.
Wenn wir — secundenlang — keinerlei
Ton mehr wahrzunehmen glauben, so
haben wir die Schuld daran einzig und
allein der Unvollkommenheit unseres Hör-
organs zuzuschreiben, dessen Empfäng-
lichkeit und Empfindlichkeit unter den
Eindrücken des socialen Lebens gelitten
hat. Wir alle haben einmal Vergnügen
daran gefunden, jene schönen großen
Muscheln an unser Ohr zu halten, aus
denen ein seltsames Sausen zu schlüpfen
scheint. Dieses Rauschen hat uns oft
verblüfft und entzückt. »Das ist das
Meer!« — erklärten mir einst, als ich
ein kleiner Junge war, die guten dummen
Leute meines Dorfes. Seither habe ich
die poetische Muschel durch ein Glas, eine
Kaffeetasse, einen Spielbecher ersetzt —
und ich begriff, dass jeder dieser Gegen-
stände auf die mikroskopischen Töne, die
rings um uns her die Luft erfüllen, just
ebenso wirkt, wie die vergrößernde und
vervielfältigende Linse auf das unsichtbare
Körperchen.

Die unhörbare Welt stand
mir nun offen
!

Vollkommene Lautlosigkeit ist nicht
denkbar auf Erden, solange nicht alles
Leben dahingeschwunden. Wissen wir
nicht, dass die Mehrzahl der großen Phi-
losophen des Alterthums soweit gegangen,
jeder Sphäre ihres planetarischen Systems
eine besondere Stimme zuzutheilen? Seit
Ur-Anfängen, schon im ältesten Alterthum,
ward der Himmelsraum — in den der
Schöpfer mit Sternenlettern eine Seite
seines göttlichen Werkes geschrieben —

von allen Menschen bewundert und von
der kaum erstandenen Philosophie zum
Gegenstande ihrer Speculationen gemacht.
Und angesichts der Bewegung, die rings
die Welten beherrscht, musste den Geist
der Denker in erster Linie der Gedanke
beschäftigen, dass sich diese Bewegung
nicht stillschweigend vollziehen
könne.

Diese Vorstellung von einer Harmonie
der Sphären
finden wir in den ältesten
Kosmogonien des westlichen Asien und
Egypten, in Griechenland und Italien.
Der irische Cabirismus hat in der Harmonie
der Gestirn-Umläufe ein Symbol gefunden:
die Sterne nannte er Cabara. Die Basken
gaben — nach Bullet — den sieben
Planeten die Bezeichnung Capiriva; der
Name der Constellationen bedeutete gleich-
zeitig: Intelligenz und Musik, Melodie. Der
mystische Tanz der Druiden stand im
engsten Rapport mit dem System der
Zahlen. Eine merkwürdige Buchstelle eines
wallisischen Dichters Cynddelew (citiert
von Davies in der »Archäologie der
Walliser«) schildert uns, wie sich die
Druiden und Barden in ungerader Zahl
mit rasender Geschwindigkeit im Kreise
drehen, gleich den Gestirnen auf ihrer
Bahn.

Nachdem Pythagoras, das Haupt
der Italischen Schule, das Princip ge-
funden hatte, dass die Zahl im Innersten
des Universums alle Dinge beherrsche,
stellten seine Schüler — oder die sich
dafür ausgaben — unter seinem Namen
zahlreiche speculative Theoreme über das
gleiche Problem auf, die aber so vielfach
untereinander differierten, dass es un-
möglich scheint, sie auf eine gemeinsame
und authentische Quelle zurückzuführen.
Namentlich zeigten sich in den Theorien
über die himmlische Lyra diese Unter-
schiede und Abweichungen, weil die Erben

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 181, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-12_n0181.html)