Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 182

Das tönende Phänomen in der Natur II. (Bailly, Edmund)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 182

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BAILLY: DIE HARMONIE DER SPHÄREN.

der pythagoräischen Weisheit — der über-
menschlichen Vision des Initiierten nicht
gedenkend — hartnäckig dabei verblieben,
die Bewegung der Sterne mit der Tonleiter
zu vergleichen, wobei sie nicht bedachten,
dass Pythagoras im Grunde nur auf das
gigantische Gesetz der Analogie in der
Natur verwiesen hat, und dass hiebei
eigentlich die Entstehung der Ton-
Scala, nicht aber ihre diatonische oder
chromatische Tonfolge in Betracht zu
ziehen ist. Im übrigen darf man die
unter der Ägide dieses Philosophen ver-
öffentlichten Schriften zweifellos nur mit
größter Reserve aufnehmen; seine Lehre
war esoterisch im strengsten Sinne
des Wortes. Als Tod und Verfolgung
die Pythagoräer bedrängte, bewahrten
die Initiierten — sagt Porphyrios — die
Lehre in ihrem Herzen, ohne sie anderen
mitzutheilen. Es gab kein Schriftwerk des
Pythagoras, und diejenigen seiner Schüler,
die dem gewaltsamen Tode entgiengen,
wie Lysis und Archippus, vermochten fast
nur schwache und fahle Funken seiner
Philosophie zu retten.

Dies vorausgeschickt, wollen wir nun
die hauptsächlichsten Systeme der himm-
lischen Lyra
prüfen; nachdem wir sie einer
unparteiischen Kritik unterzogen, werden
wir den Versuch machen, die pythago-
räische Lehre, soweit sie die schöpfe-
rische Bildung der Harmonien im
Universum betrifft, in ihrer unversehrten
Reinheit wieder aufzubauen. Mit Plutarch
beginne ich, denn auf diesem Special-
gebiete des antiken Wissens ist er der
Autor, dem man gemeiniglich und in erster
Linie folgt. In seinem schönen Tractat
über die Entstehung der Weltseele sagt er:

»Einige weisen der Erde den Platz
der Note Proslambanomenos (A re) an, dem
Monde den der Hypate (B mi), Mercur
und Venus lassen sie auf der diatonischen
und auf der Lichanos-Stufe sich bewegen
(C fa ut und D sol re), von der Sonne
aber behaupten sie, dass sie als Mittelsaite
die Octave zusammenhalte und von der
Erde den Abstand einer Quinte, von der
Sphäre der Fixsterne den Abstand einer
Quarte habe. Aber diese sinnreiche Ver-

gleichung kommt der Wahrheit ebenso-
wenig nahe, als sich jene Erklärer über-
haupt an eine strenge Methode halten.

Diejenigen aber, die da behaupten,
dass diese Erklärungen außer Zusammen-
hang mit den Gedanken Platos seien,
betonen dennoch, dass sich darin musi-
kalische Verhältnisse von etwa folgender
Art zu erkennen geben: Die Planeten sind
in fünf Abständen von einander angeordnet,
wie die fünf Tetrachorde, nach der Hypate,
Mese, Synemmene, Diezeugmene und Hyper-
bolaia
. Der erste Abstand ist der vom
Mond zur Sonne und den mit der Sonne
gleichlaufenden Planeten Mercur und Venus;
der zweite erstreckt sich von diesen dreien
bis zum Mars, dem sogenannten Feuer-
stern; der dritte reicht vom Mars bis zu
Jupiter; der vierte von da bis zu Saturn;
der fünfte vollends von diesem bis zur
Sphäre der Fixsterne, so dass die unter-
scheidenden Töne und Noten der fünf
Tetrachorde dasselbe Verhältnis zu einander
haben wie die Gestirne.

Im übrigen wissen wir, dass die Alten
nur zwei Hypaten, drei Neten, eine Mese
und eine Paramese anwandten, so dass
also die Haupttöne den sieben Planeten
an Zahl gleich waren. Die Neueren aber
haben den überzähligen Ton (Proslambano-
menos)
, der um einen ganzen Ton tiefer
ist als Hypate, hinzugenommen und da-
durch das ganze Tonsystem auf zwei
Octaven gebracht, bei den Consonanzen
aber die natürliche Ordnung nicht mehr
beibehalten, denn wenn noch ein Ton
unter dem Grundton hinzugenommen wird*,
so entsteht die Quinte früher als die Quarte.
Plato dagegen hat ihn offenbar in der
Höhe dazugenommen, denn in seinen
Büchern vom Staate sagt er: Jede der
acht Sphären führt eine auf ihr ruhende
Sirene mit sich, die ihre Sphäre in Be-
wegung setzt; sie alle lassen ihre Stimme
erschallen, jede ihren eigenen Ton, und
aus der Mischung aller dieser Töne ent-
steht die eine Harmonie; sie haben Ge-
fallen und Freude daran, sie preisen die
göttlichen Dinge und singen den süßen
achtstimmigen Gesang des heiligen Kreis-
laufs im Reigen; acht an Zahl waren auch

* Das heißt: wenn man die Quinte (Diapente) vor die Quarte (Diatessaron) stellt. Diese
Frage, ob man den Ton Proslambanomenos eher in die Tiefe als in die Höhe stellen soll, gab
zu langen Discussionen unter den griechischen Theoretikern Anlass.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 182, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-12_n0182.html)