Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 185

Noten zu den Sculpturen Rodins (Kassner, Rudolf)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 185

Text

NOTEN ZU DEN SCULPTUREN RODINS.
Von RUDOLF KASSNER (Paris).

In seinem Pavillon auf der Place de
l’Alma stellt jetzt Rodin sein Werk aus.
Man kann hier das Schaffen des sechzig-
jährigen Meisters verfolgen von dem
L’Homme au nez cassé bis zu den Skizzen
seines Zukunftswerkes Le Travail. Ich
werde die Namen seiner Werke nicht
herzählen, der Katalog nennt, glaube ich,
hundertundfünfzig Nummern. Es ist das
auch ganz gleichgiltig.

Es ist also eine Ausstellung, und doch
glaubt man, in eine Werkstätte zu treten.
Es sind Werke, die keinen andern Raum
acceptieren, als den, welchen sie um sich
selbst bilden. Sie sind so lebendig, dass
sie überall zu sein scheinen, und dann doch
wieder so einsam, dass sie überall de-
placiert wirken. Sie stellen eigentlich
nichts vor, sie präsentieren sich nicht;
man ist sofort allein mit ihnen; wenn
man eines kennt, kennt man alle, und
wer sie lange ansieht, dem wird es bald, als
schaue er in sich selbst. Und doch ist
man wie in einer Werkstätte und vergisst
nicht, dass hier am Steine jemand ge-
arbeitet hat, dass am Steine hier etwas
geschah, aus Steinen etwas wurde.

Es sind nackte Leiber, die man sieht,
wenige Büsten, und wenn jene bekleidet
sind, so ist es, als giengen sie schnell nur
auf die Strasse, auf eine Bühne, auf die
Maskerade. Nichts ist entbehrlicher, als der
Katalog. Die Titel kann man in den meisten
Fällen vertauschen, ändern oder überhaupt
weglassen. Wie fast alle Namen großer
Kunstwerke und die philosophischen Aphoris-
men Victor Hugos, sind es Gemeinplätze.

Nackte Leiber sind es also, sagte ich,
einzeln, zu zweien oder in Gruppen. Leiber,
die sich umarmen, fliehend sich halten,
miteinander ringen, aus Liebe oder aus
Hass, voreinander knien, schweben oder
fallen. Ich will keine Beschreibung geben.
Es wäre zu thöricht, mit Worten da
etwas erreichen zu wollen, wo die Musik
allein den Ausdruck umzuwerten ver-

möchte. Die Glieder sind hier nur Möglich-
keiten zu Gesten, sind thatsächlich nur
Saiten auf einem Instrumente.

Diese Menschen handeln unter dem
Eindruck von etwas, das stärker ist als sie
selbst. Man weiß oft nicht, sterben sie oder
erwachen sie. Mit der Brunst von Thieren
schlingen sie sich ineinander, und wenn
sie ihre Leiber voneinander trennen, so ist
es, als hätten sie in den Augen und um
den Mund die Scham Derer, die bei sich
nicht verweilen dürfen.

Gruppen, sagte ich, sind es oder Einzel-
figuren. Und merkwürdig, Rodins Einzel-
figuren sind fast alle Torsos. Man merkt
das gar nicht, so natürlich scheint es Einem.
Als müsste es so sein! Als müsste ihnen
etwas fehlen! Sie sind wie herausgerissen
aus einer Gruppe, einer Harmonie, und
haben etwas verloren, etwas zurückgelassen.
Sehr allgemein gesprochen: was Rodin ge-
schaffen hat, sind Liebende oder Torsos.

Die Körper sind nicht frei, oder
wenigstens ein großer Theil von ihnen
ist es nicht. Etwas an ihnen ist noch
unbehauener Stein, der Unterkörper oder
die Arme. Seine Reliefs haben eine ähn-
liche innere Bedeutung wie seine Torsos.
Es sind natürliche Reliefs, die Menschen
bleiben immer im Relief des Stoffes, aus
dem sie werden sollen. Novalis würde
sagen: Ein Relief ist ein positiver Torso.
Man weiß da oft nicht, brechen diese
Körper aus dem Steine hervor oder falten
sie sich wieder in ihn ein. Als wären
sie doch noch Gesten, trotz Liebe und
Tod, und Illusionen trotz des Schicksals.
Und wenn sie frei sind, so haben sie.
etwas Zitterndes, Fieberhaftes, Geblendetes,
als wollten sie wieder zurück in das
Schweigen, aus dem man sie zwang.
Wie Fische, die man ans Ufer geworfen
hat! Sie suchen dann nach etwas, finden
den Leib eines andern, umschlingen ihn,
als wollten sie sich in ihn eindrücken,
in ihm vergraben, und der Künstler schreibt

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 185, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-12_n0185.html)