Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 157

Die Isergil I. (Gorkij, Maxim)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 157

Text

DIE ISERGIL.
Von MAXIM GORKIJ (Nižhnij-Novgorod).
I.

Ich hörte diese Erzählung in der Nähe
von Akkerman in Bessarabien, am Meeres-
strande.

Eines Abends zog die Schar Moldauer,
in der ich arbeitete, nach Beendigung der
täglichen Weinlese ans Meeresufer. Ich
und die alte Isergil aber blieben im dichten
Schatten der Weinreben allein zurück,
legten uns still auf die Erde und sahen
zu, wie die Gestalten der zum Meere
Wandernden im dichten Nachtnebel und
im dunklen Blättergrün verschwanden. Sie
giengen, sangen und lachten: bronze-
farbene Männer mit buschigem, schwarzen
Schnurrbart und dichtem Lockenhaar, das
bis auf die Schultern reichte, in kurzen
Jacken und weiten Hosen; fröhliche, wie
Weinreben biegsame Frauen und Mädchen
mit dunkelblauen Augen — ebenfalls
bronzefarben. Ihr seidenweiches, schwarzes
Haar war aufgelöst; ein warmer, leichter
Wind spielte in ihm und klapperte mit
den eingeflochtenen Münzen. Der Wind
floss in breiter, ebenmäßiger Welle dahin;
bisweilen hüpfte er aber wie über etwas
Unsichtbares hinweg, gab einen starken
Stoß und trieb das Haar der Frauen in
phantastischen Mähnen auseinander, die
sich um ihren Kopf aufbauschten. Das
gab den Frauen ein sonderbares, chimären-
haftes Aussehen. Sie zogen weiter und
weiter, und die Nacht und unsere Phantasie
gestalteten sie schöner und immer schöner
Irgend jemand spielte auf einer Geige ein
Mädchen sang in weichem Alt; Gelächter
ertönte und die Einbildung ließ uns
alle Klänge als eine Guirlande von bunten
Bändern erscheinen, die in der Luft über
den dunklen, vom Nebel verschlungenen
Menschengestalten dahinflatterten. — Die
Luft war von scharfem Seegeruch und
von fetten Erdausdünstungen durchdrungen;
kurz vor Abend hatte reichlicher Regen
den Boden aufgeweicht; auch jetzt noch

wanderten dichte Wolkenfetzen in sonder-
baren Umrissen und Farben am Himmel
entlang; hier weich wie Rauchknäuel,
schwarzblau und aschgrau; dort scharf
wie Felszacken, glänzend schwarz oder
zimmetfarben. Zwischen ihnen leuchteten
fröhlich dunkelblaue Stückchen des Himmels,
mit goldenen Sterntröpfchen geschmückt.
Und alles Das: die Klänge und Düfte,
Wolken und Menschen, war zauberhaft
schön, aber traurig; es schien wie der
Anfang eines prächtigen Märchens. Alles
war wunderbar harmonisch, schien aber
in seiner Entfaltung gehemmt und hin-
zusterben Richtiger Lärm, lebendiger,
nervenaufregender Lärm, der hie und da
hell aufloderte, erklang selten; das Geräusch
um uns war meistens schwach, wurde oft
unterbrochen, erstarb gänzlich, entfernte
sich und gieng unter in traurigen Seufzern
des Bedauerns über irgendetwas, vielleicht
über das unfassbare, unbeständige Glück.
— — Ich betrachtete alles, und in
mir entstanden phantastische Wünsche:
ich wollte mich in Staub verwandeln und
vom Winde überallhin tragen lassen; wollte
als warmer Fluss durch die Ebene fließen,
mich ins Meer ergießen und als milch-
weißer Nebel den Himmel anhauchen;
wollte diesen ganzen, zauberhaft schönen,
traurigen Abend mit mir erfüllen
und war aus irgendeinem Grunde be-
trübt.

»Warum bist du nicht mit ihnen ge-
gangen?«, fragte die alte Isergil und nickte
mir zu. Die Zeit hatte ihren Körper in.
der Mitte eingeknickt; ihre einst schwarzen
Augen waren trübe und thränten. Ihre
trockene Stimme klang ohne Vibration;
sie knirschte, als wenn die Alte mit
Knochen spräche. Aber wie konnte sie
erzählen!

»Ich will nicht«, antwortete ich auf
ihre Frage.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 157, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-11_n0157.html)