Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 161

Die Isergil I. Der Gedanke (Gorkij, MaximTopelius, Zacharias)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 161

Text

TOPELIUS: DER GEDANKE.

und wird so ewig bleiben. Der Menschen
Rede versteht er nicht und auch nicht
ihre Thaten. Er sucht immerfort und
geht und geht hat kein Leben; und
der Tod lächelt ihm nicht, und er hat keinen
Platz zwischen den Menschen So
wurde ein Mensch für seinen Übermuth
bestraft!« —

Die Alte seufzte und schwieg, und ihr
Kopf, der auf die Brust gesunken war,
wackelte mehrmals sonderbar hin und her.
Ich sah sie an; Schlaf schien sie zu über-
kommen. Ich richtete keine Fragen an
sie, obgleich ich mancherlei zu fragen
hatte. Sie that mir aus irgendeinem
Grunde unsäglich leid. Sie hatte den
Schluss der Erzählung in erhöhtem, fast
drohendem Ton herausgebracht, aber
dabei klang in ihm doch eine furchtsame,
unterwürfige Stimmung mit. — — Am
Strande begann man zu singen, seltsam
zu singen! Zuerst erklang der Contra-Alt:
er sang zwei, drei Noten, dann ertönte
eine andere Stimme, die das Lied von
neuem begann, während die erste ihr

immer vorauslief; dann fiel eine dritte,
vierte und fünfte Stimme in derselben
Reihenfolge ein. Und plötzlich wurde
dasselbe Lied ebenso von Anfang an von
einem Männerchor gesungen. Dabei kam
etwas Wunderbares heraus: jede Frauen-
stimme erklang für sich allein; alle zu-
sammen erschienen sie wie bunte Bäche,
die in Cascaden irgendwo von der Höhe
herabflossen, -hüpften und -klangen, sich
in das dichte Gewoge der Männerstimmen
ergossen, gleichmäßig auf ihm schwammen,
in ihm untergiengen, hervortauchten und
sich wieder eine nach der andern rein
und stark emporschwangen. Auch die
Melodie war eigenartig. Die Männer sangen
ohne Vibration, ihre mächtigen Stimmen
summten dumpf, als ob sie etwas Trauriges
erzählten; die Frauenstimmen aber über-
holten sich gegenseitig, als hätten sie
Eile, ebendasselbe vor den Männern zu
erzählen; sie klangen fröhlich und munter
wie Glöckchen, mit einer Menge lachender
Triller Das Rauschen der Wogen aber
war vor dem Gesang nicht zu hören

Der zweite Theil folgt in nächster Nummer. — — Vgl. die Bemerkungen am Schlusse dieses Heftes.

DER GEDANKE.
Von ZACHARIAS TOPELIUS.

Was ist es, das Ich, Du, Er, Sie, Es ist,
alles und gleichzeitig nichts? Was ist
es, das in einer Schale von der Größe
einer Cocosnuss wohnt und doch nicht
Raum in den Grenzen der Welt findet?
Was ist es, das stets geboren wird und
stets stirbt, blüht und welkt und lebt zu
allen Zeiten? Was ist die gleichzeitig
schwächste und mächtigste von allen
irdischen Kräften, das beständig Beweg-
liche, Ungreifbare, das, leichter als der
Äther und das Licht, sich nicht binden,
fangen, erwürgen, ertränken, zählen,
wägen, messen, verzollen oder besteuern
lässt? Was ist es, Censor? Was ist es,

Großinquisitor? Du musst es wissen.
War es doch am Tage deine dumpfe
Mühe, nachts dein verzweifelter Traum.
Du tödtetest es, und es fuhr fort zu leben;
Du löschtest es, und es leuchtete weiter;
die ganze Welt riefst du zum Zeugen auf,
dass du es im ewigen Schoß der Ver-
gessenheit begraben, und sieh’, da stand
es mitten auf dem Markte und ließ seine
redegewandte Zunge vor jedermann er-
klingen, der hören wollte — und jedermann
verstand es.

Von Schreck und Scham überwältigt,
bietet der Gefängniswärter des Gedankens
dem Gefängniswärter des Glaubens seinen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 161, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-11_n0161.html)