Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 160

Die Isergil I. (Gorkij, Maxim)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 160

Text

GORKIJ: DIE ISERGIL

Darauf erwiderte man ihm, dass der
Mensch für alles, was er in Besitz nähme,
mit sich selbst, mit seinem Verstande und
seiner Kraft, seiner Freiheit und seinem
Leben bezahle. Er aber erwiderte, er
wollte sich ungetheilt erhalten. Man sprach
lange mit ihm und ersah aus allem, dass
er sich für den Ersten auf Erden hielt
und niemanden außer sich achtete. Alle
waren entsetzt, als sie begriffen, in welcher
Einsamkeit er sich befand. Nannte weder
Sippe noch Stamm, noch Heldenthaten,
noch Vieh, noch ein Weib sein eigen —
und er wünschte sich auch gar nichts
hievon.« —

Am Ufer lachte ein Mädchen in fröh-
lichen, prächtigen Tönen und jemand sang
in hohem Tenor. Bisweilen fielen mehrere
Stimmen in den Gesang ein; ein Schwarm
von Tönen flog durch die Luft und war
plötzlich verschwunden, als wenn jemand
alle Töne auf einmal gepackt — sie ge-
packt und weggesteckt hätte

»Als nun die Männer sahen, dass ihm
nichts überlegen sein würde, hielten sie
wieder Rath, wie er zu bestrafen wäre.
Aber jetzt sprach man nicht lange, denn
der Weise, der bislang wenig geredet,
begann von selbst:

Haltet ein! Es gibt eine Strafe!
Eine so schreckliche, wie man sie in
tausend Jahren nicht ersinnt! Die Strafe
liegt in ihm selbst. Lasst ihn los; er soll
frei sein; das ist seine Strafe!

Und da geschah etwas Gewaltiges:
Donner stürzte vom Himmel, an dem
keine Wolke zu sehen war. Eine höhere
Macht bestätigte die Worte des Alten.
Alle verneigten sich und giengen ausein-
ander. Er aber, der Jüngling, der schon
den Namen »Larra« erhalten hatte —
was soviel heißt wie: der Verworfene,
der Ausgestoßene — dieser Jüngling lachte
gellend allen Leuten hinterdrein, die ihn
verstoßen hatten — lachte und blieb allein,
frei wie sein Vater. Sein Vater aber war
kein Mensch gewesen; er dagegen — war
ein Mensch! — — Und da begann er
zu leben, frei wie ein Vogel. Er gieng
unter die Stammesmitglieder und raubte
Vieh, Mädchen, alles, was er wollte. Man
schoss auf ihn, aber die Pfeile konnten
seinen Körper, der mit dem undurchdring-
lichen Mantel schwerster Pein bedeckt

war, nicht verletzen. Er war gewandt,
räuberisch, stark, grausam und traf niemals
Angesicht in Angesicht mit jemandem zu-
sammen. Man sah ihn stets nur von ferne.
Und jeder, der ihn sah, schoss Pfeile auf
ihn ab, soviel er konnte. — — So wand
er sich lange zwischen den Menschen hin-
durch, lange Zeit, mehr als ein Jahrzehnt!
Aber ein Mensch kann nicht sein ganzes
Lebenlang ein und dasselbe thun. Man
kann nicht fortwährend genießen — zuletzt
verliert man die Freude am Genuss und
möchte leiden Und so kam er eines
Tages nahe an die Menschen heran, und
als sie sich auf ihn stürzten, rührte er
sich nicht von der Stelle und verrieth
durch nichts, dass er sich wehren würde.
Da wurde Einem von ihnen das Räthsel
klar und er rief schnell und laut:

Rührt ihn nicht an! Er will sterben!

Und alle blieben stehen, denn sie
wollten das Los dessen, der ihnen Böses
zugefügt, nicht erleichtern, wollten ihn
nicht tödten. Sie blieben stehen und lachten
über ihn. Er aber zitterte, als er dieses
Gelächter hörte, und suchte fortwährend
etwas an seiner Brust. Und plötzlich
stürzte er mit einem Stein in der erhobenen
Faust auf die Menschen los. Sie aber
wichen seinen Schlägen aus und brachten
ihm selbst nicht einen Streich bei, und als
er ermattet mit Gramgeschrei zu Boden
stürzte, traten sie zur Seite und beob-
achteten ihn. Und da stand er auf, ergrift
ein im Kampfe mit ihnen verlorenes
Messer und stieß es sich in die Brust.
Das Messer aber zerbrach, als wenn es
auf einen Stein gestoßen wäre. Und
wieder stürzte er zu Boden und schlug
die Erde lange mit dem Kopf. Diese
aber entfernte sich von ihm, wich vor
den Schlägen seines Kopfes zurück.

Er kann nicht sterben! — sagten
die Leute, die alles das mitansahen.

Und sie giengen fort und ließen ihn allein.
Er lag mit dem Gesicht nach oben und sah,
wie hoch am Himmel mächtige Adler als
schwarze Punkte segelten. Er lag da, und
in seinen Augen war soviel Gram, dass
man alle Menschen damit hätte vergiften
können, und so blieb er von der Zeit an,
frei, allein, den Tod suchend. Und jetzt
geht und steht er überall Man sieht,
er ist schon wie ein Schatten geworden

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 160, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-11_n0160.html)