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»Uh! seid von Greisen geboren,
ihr Russen! Alle finster, wie der böse
Geist Fürchtest dich vor unseren
Mädchen? Bist doch jung und stark «
Der Mond gieng auf; seine Scheibe
war groß, blutroth und schien aus dem
Innern dieser Steppe hervorzusteigen, die
ihr Lebenlang so viel Menschenfleisch ver-
schlungen und so viel Blut getrunken
hatte, wovon sie gewiss so fett und üppig
geworden war! Kreisrunde Blätterschatten
fielen auf uns; die Alte und ich wurden
von ihnen wie mit einem Netze bedeckt,
und sie erzitterten. Links von uns schwangen
sich Wolkenschatten, die von blauem
Mondlicht durchdrungen und durchsichtiger
und heller geworden waren, über die Steppe
dahin Ganz leise flogen die Töne vom
Meere zu uns herüber; bald weinte die
Geige, bald lachte ein Mädchen, bald sang
ein Bursche in geschmeidigem Baryton; und
alles das vermischte sich mit dem rhyth-
mischen Plätschern der Wellen am Strande.
»Sieh’, da geht der Larra!«
Ich blickte hin, wohin die Alte mit
ihrer zitternden, krummfingrigen Hand
deutete, und sah: da schwammen Schatten,
viele Schatten, und einer von ihnen, der
dunkler und dichter als die übrigen, schwamm
schneller und niedriger als die Schwestern,
weil er von einem Wolkenklumpen ab-
gebröckelt war, der tiefer über der Erde
hieng und schneller vorwärtseilte als jene.
»Da ist niemand«, sagte ich.
»Bist blinder als ich Alte! Sieh’, da
läuft er, der Dunkle, durch die Steppe!«
Ich blickte noch einmal hin und sah
wieder nichts als Schatten.
»Ist nur ein Schatten! Warum nennst
du ihn Larra?«
»Weil er es ist. Ist zwar mit der Zeit
wie ein Schatten geworden! Er lebt schon
tausend Jahre; die Sonne hat seinen Körper,
sein Blut und die Knochen ausgedörrt,
und der Wind hat sie auseinandergeweht.
Das alles kann Gott aus einem Menschen
wegen seines Übermuthes machen! «
»Erzähle mir, wie das zugieng«, bat
ich die Alte, und witterte im voraus eines
jener prächtigen Märchen, die in der Steppe
entstanden sind.
Und sie erzählte mir das Märchen.
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»Viele tausend Jahre sind seitdem ver-
gangen. Weit hinter dem Meere, wo die
Sonne aufgeht, liegt das Land mit dem
großen Flusse, und in diesem Lande wirft
jedes Baumblatt und jeder Grashalm genau
soviel Schatten, wie der Mensch nöthig
hat, um sich vor der Sonne, die dort
grausam brennt, zu bergen. Solch ein
reicher Boden ist in diesem Lande! Es lebte
auf ihm ein starker Menschenschlag, der
Herden besaß und auf der Jagd nach
Raubthieren seine Kraft und Mannheit er-
probte. Nach der Jagd wurde gezecht und
geschmaust, wurden Lieder gesungen und
mit Mädchen gescherzt, die dort schön wie
Feuer waren. — Eines Tages wurde eine von
ihnen, die zärtlich und schwarzhaarig war
wie die Nacht, während des Schmauses
von einem Adler entführt, der vom Himmel
herabstieß. Die Pfeile, die von den
Männern des Stammes auf ihn abgeschossen
wurden, fielen kläglich auf die Erde zurück.
Da zog man aus, das Mädchen zu suchen,
fand es aber nicht. Und es wurde ver-
gessen, wie alles auf Erden vergessen
wird.«
Die Alte seufzte und schwieg. Ihre
knarrende Stimme klang, als wenn alle
verflossenen Jahrhunderte sich als schatten-
hafte Erinnerungen in ihr verkörpert hätten
und in ihr murrten. Und das Meer be-
gleitete mit leisem Wellengemurmel den
Anfang eines der uralten Märchen, die
vielleicht an seinem Gestade entstanden
sind.
»Aber nach zwanzig Jahren kehrte sie
erschöpft und abgezehrt zurück, und bei
ihr war ein Jüngling, hübsch und stark,
wie sie selbst vor zwanzig Jahren. Und als
man sie fragte, wo sie gewesen, erzählte
sie, der Adler hätte sie in die Berge
entführt und dort mit ihr wie mit seinem
Weibe gelebt. Der Jüngling sei ihr Sohn.
Der Vater aber lebe nicht mehr; als er
anfieng, schwach zu werden, erhob er
sich zum letztenmale hoch in den Himmel,
legte die Flügel zusammen und stürzte
von oben herab auf eine scharfe Fels-
spitze, — stürzte herab und zerschlug
sich zu Tode «
»Alle schauten den Adlersohn voll
Erstaunen an und sahen, dass er in nichts
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