Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 183

Das tönende Phänomen in der Natur II. (Bailly, Edmund)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 183

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BAILLY: DIE HARMONIE DER SPHÄREN.

die Glieder der doppelten und dreifachen
Verhältnisse, wenn zu jeder der beiden
Reihen die Einheit als Glied gezählt wird.*
Die Alten der Vorzeit haben uns auch
neun Musen überliefert, von denen sich
acht nach Plato mit den himmlischen
Dingen befassen, die neunte aber das
Irdische besänftigt und aus regelloser, ge-
räuschvoller Wirrnis und Zwietracht zur
Ruhe lockt.«

Diese Worte Plutarchs werden dem
Leser wohl dunkel erscheinen, wenn er sich
nicht einigermaßen mit der Musik-Theorie
der alten Griechen vertraut gemacht hat;
ich möchte das Angeführte nun möglichst
rasch und kurz erläutern: Der erste Absatz
besagt deutlich, dass der Erde das tiefe la

entspricht, dem Monde: si, dem Mercur:
ut, der Venus: re. Die Mese (mi) bezieht
sich auf die Sonne; von Mars, Jupiter
und Saturn wird überhaupt nicht ge-
sprochen, aber ohne Frage sind es fa
und sol, die ihnen in dieser diatonischen
Scala entsprechen; la, das eine Octave
hinter dem Ausgangspunkte liegt, wird
auf die Fixsterne oder die Zeichen des
Zodiakus bezogen. Übrigens legt Plutarch
keinen besonderen Nachdruck auf diese
Combination. Was die anderen zwei Ab-
sätze betrifft, so werden sie, glaube ich,
wohl genugsam durch die folgende Tabelle
klar gemacht, in der ich das grosse und
kleine System des Pythagoras zusammen-
fasse.**

MOND

VENUS
MERCUR
SONNE

MARS

SATURN

FIXSTERNE

LA — SI — ut — re — MI — fa — sol — LA + SI — ut — re — MI — fa — sol — LA

Proslambanomenos

I
Hypaton

II
Meson

IV
Diezeugmenon

V
Hyperboleon

JUPITER

LA — si ♭ — ut — RE

III
Synemmenon

Aus einer Prüfung dieser Tabelle, die
uns das Tetrachord-System der antiken
griechischen Musik vor Augen führt, ergibt
sich, dass hier die Gestirne von vier zu
vier in die Tonleiter eingefügt sind, was
ihnen fictive Distanzen zuweist. Dazu
kommt, dass hier der Mond als Fun-
damental-Ton
(Grundton) genommen ist,
während doch offenbar der Sonne diese
Rolle zufallen müsste. Solch eine Folge
konnte unmöglich von Pythagoras gelehrt
worden sein, dem doch die kreisende Be-

wegung der Erde um die Bildnerin unseres
Systems genau bekannt war, wenn er auch
nur seinen Schülern gegenüber — und
unter dem Siegel der Verschwiegenheit —
davon zu sprechen pflegte.***

Das Diagramma Platons nähert sich
weit mehr der Wahrheit, wenn es zwischen
den Welten des Sonnen-Systems Distanzen
einer Octave und Quinte annimmt. Leider
geht aber auch er von dem Mond aus
und bringt ihn mit dem tiefen mi in Ver-
bindung; der Sonne entspricht da nun:

* Z. B.

1
2 3
4 9
8 27

** Der Leser, der die Formation dieser Systeme im Detail kennen lernen will, wird
mit Nutzen zu den tiefgründigen Studien greifen, die A. Dechevrens unter dem Titel: Études
de Science musicale
vor kurzem veröffentlicht hat.

*** Vgl. Bailly: Geschichte der antiken Astronomie. Viele Stellen bei Aristides Quintilianus
beweisen deutlich, dass es eine esoterische Lehre und Betrachtungsweise der Musik in
den Schulen des Alterthums gegeben.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 12, S. 183, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-12_n0183.html)