Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 172

Das tönende Phänomen in der Natur I Ibsen, der Bekenner (Bailly, EdmundBrausewetter, Ernst)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 172

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BRAUSEWETTER: IBSEN DER BEKENNER.

und die schwerfälligeren der Materie ge-
meint. Alle diese Formen sind im vollen
Glanze ihrer integralen Schönheit den
Händen ihres Schöpfers entstiegen, und
erscheinen sie uns auch nur zu oft mittel-
mäßig oder hässlich, so ist dies deshalb der
Fall, weil unsere sündigen Seelen sie nach Be-
lieben in den Staub gezerrt haben. Sehen
wir nicht den Menschen, den selbstisch
der Befriedigung seines Hochmuths und
seiner Genussucht nachjagenden Menschen,
den Lauf der Gewässer gewaltsam ändern,
allerorten die Ordnung der Natur zerstören
und an Stelle der freien Anmuth der Land-
schaften die praktische Hässlichkeit seiner
monotonen Städte setzen? Für Augen-
blicke durchzuckt ein Blitz diese Schatten,
der wiedererstandene Große Traum über-
strömt die Menschheit mit seinem strahlen-
den Lichte, durch die Stimme eines

Künstlers, durch den Gesang eines Dichters,
durch das Wort irgendeines Eingeweihten
von ehedem: dieser ließ sich von den
reinsten Wogen des stets vibrierenden
Akasa wiegen, und sein Blick in die Un-
endlichkeit schuf, was ihr »Meisterwerk«
nennt! Einer gigantischen Lyra gleich
tönt unaufhörlich dieses Akasa, alle Wesen
mit seiner belebenden Substanz durch-
dringend; doch zu armselige Sorgen er-
füllen unser Denken, als dass wir imstande
wären, den belebenden Hauch beständig
zu empfinden. Und die Wogen, die uns
umströmen, wir besudeln sie täglich mit
dem Wiederhall unseres Hasses, unserer
Raubgier, unserer Schmähungen. So ist
das Leben um uns her erfüllt mit Ge-
hässigkeit und Groll und mit unermess-
licher Traurigkeit.

IBSEN DER BEKENNER.
Von ERNST BRAUSEWETTER (Berlin).

Henrik Ibsens letztes Werk: »Wenn
wir Todten erwachen
, ein dra-
matischer Epilog«, beweist, dass die
schwache Charaktergestaltung und Pro-
blem-Durcharbeitung, die sich in seinem
»Gabriel Borkman« bemerkbar machte,
wohl nur in der unglücklichen Wahl des
Themas lag, denn dieses zwei Jahre später
erschienene neue Werk verräth unge-
schwächte Geistes- und Schaffenskraft,
einen poetischen Schwung, eine Stimmungs-
malerei und tragische Kraft, wie sie in
seinen letzten Werken nicht zu finden
waren. Aber noch in anderer Beziehung
ist diese neue Dichtung beachtenswert und
von bedeutendem allgemeinen Interesse:
sie ist ein Selbstbekenntnis, eine
Offenbarung der verborgenen Innenvor-
gänge einer Künstlerseele, die Enthüllung
einer bitteren Enttäuschung am Lebens-
abend beim Rückblick auf das Resultat
des Lebens.

In Ibsens Schaffen sind verschiedene
Entwicklungsstadien zu unterscheiden: die
romantische Jugendperiode mit der Ver-

herrlichung altnordischer Charaktergröße
und der alten Heldenzeit, dann — nach
einem vom Publicum und der Kritik an-
gefeindeten Versuch in moderner Gesell-
schafts-Satire (»Komödie der Liebe«) —
die poesiereichen und gedankentiefen
Dichtungen über allgemeine Welt-Ideen
(»Brand«, »Peer Gynt«, »Kaiser und Gali-
läer«). Hierauf wurde er »weltklug«, wie
Bildhauer Rubek in »Wenn wir Todten
erwachen« sagt. Er wollte »mit im Bilde
haben, was er rings um sich in der Welt
sah«. Und bei seiner stets in die Tiefe drin-
genden und zersetzenden Forschermethode
enthüllte er verborgen gewesene Seelen-
und äußere Conflicte im Gesellschafts- und
Familienleben in einer halb tragischen,
halb satirischen Beleuchtung und in indi-
viduellen Charakteren voll lebenserlauschter
Einzelzüge und offenbarte die Kleinlichkeit
und Niedrigkeit der Menschennatur hinter
der Maske der Biederkeit, des Edelmuthes
und der Scheingröße, wie Bildhauer Rubek,
der bei seinen Porträts hinter den Menschen-
gesichtern »Thierfratzen«, je nach der

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 172, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-11_n0172.html)