Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 178

Maurice Maeterlincks Das Mysterium der Gerechtigkeit* Sitz des mathematischen Sinns*

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 178

Text

RUNDSCHAU.

Die erste Mainummer (VII, 9) der Revue de
Paris
bringt eine Studie MAURICE MAETER-
LINCKS, die sich DAS MYSTERIUM DER
GERECHTIGKEIT nennt und als Schlusstheil
eines umfassenden Essays gedacht ist, der dem-
nächst unter gleichem Titel in Buchform
erscheinen soll. Maeterlinck behandelt hier
ein Thema, mit dem sich in den letzten Jahren
namentlich Tolstoi (vgl. »Acte der Selbst-
opferung« von Leo Tolstoi in III, 22 der
»W. R.«) eingehend beschäftigt hat, hebt aber
die ethischen und sociologischen Erwägungen
in eine rein spiritualistische Höhe. Man
kann, sagt er, die Gerechtigkeit im Centrum
eines jeden Ideals finden. Sie ist inmitten
der Wahrheitsliebe, wie sie inmitten der
Schönheitsliebe ist. Sie ist in gleicher Weise
die Güte, das Mitleid, die Liebe, die Groß-
muth und der Heroismus, denn die Güte,
das Mitleid, die Liebe, die Großmuth und der
Heroismus sind Gerechtigkeits-Acte eines
Menschen, der sich genugsam hoch erhoben
hat, um das Gerechte und das Ungerechte
nicht einzig und allein in dem engen Kreise
seiner zufälligen »Verpflichtungen« zu sehen und
zu suchen, wohl aber jenseits der nachbarlichen
Schicksale, jenseits all der Dinge, die er thun
muss, die er billigt, missbilligt, erhofft oder
befürchtet, jenseits der Irrthümer und Thaten
der Menschen. Auf dem verborgenen Grunde
unseres Innenlebens lässt sich das Bild einer
unsichtbaren, unzerstörbaren, unfehlbaren Ge-
rechtigkeit finden, die wir im Weltall und in
der menschlichen Gesellschaft vergeblich suchen
würden. Sie ist nicht den Irrungen des Ver-
standes, den Schlingen unserer persönlichen
Interessen, den Gewohnheiten des socialen
Körpers unterworfen. Sie hört und prüft, scheint
es, alles, was wir denken, sagen, anstreben,
und wandelt es in eine Summe sittlicher Kräfte,
die unser Innenleben erweitern, erleuchten. Sie
vergrößert nicht und verringert nicht unsere
Reichthümer, sie wendet nicht Krankheit noch
Blitz ab; aber sie erhält unser Leben selbst
dann noch, wenn alles andere uns verlassen.
Ist sie das lauterste Product unserer Vernunft
oder ist sie, aus Gefühlskräften hervorgehend,
eine Art unbewusster Vernunft, die oft gegen die
bewusste Vernunft zeugen muss und ihr voran-
läuft, um späterhin fast regelmäßig von ihr
bestätigt zu werden? Worauf es ankommt,
ist, dass wir sie stärker empfinden; dann wird
sie unsere Gefühle, Leidenschaften und In-
stincte allmählich beherrschen. Aber durch all
Das, was wir nicht wissen, nicht wahrnehmen,
nicht tief genug ergründen, wird sie vielfach
verstümmelt, verringert, missgestaltet. Ereig-
nisse, Gedanken, Pflichten, Beziehungen, die
sich geltend machen, versuchen an der Organi-

sation dieser inneren Gerechtigkeit zu rütteln.
Und die meisten bemerken gar nicht, dass es
zu ihrer Rechten und Linken Ungerechtigkeit
ohne Grenzen gibt, die drei Viertheile des
Lebens füllt.

Über den SITZ DES MATHEMATISCHEN
SINNS spricht der bekannte Neurologe Dr. med.
et phil. Paul MÖBIUS (Leipzig) in Prof. Dr. E.
MENDELS »Neurologischem Centralblatt«
(XVIII, 22, S. 1049 — Bericht über die fünfte
Versammlung der Vereinigung mitteldeutscher
Psychiater und Neurologen in Leipzig).

Verfasser gliedert die Menschen nach ihrer
größeren oder geringeren mathematischen Be-
gabung, resp. Nichtbegabung ( größere oder
geringere Fähigkeit, resp. Unfähigkeit, Zahlen-
beziehungen aufzufassen) in die folgenden fünf
Gruppen:

1. Die Unfähigen. Zu diesen gehören
(mit geringen Ausnahmen) die meisten Weiber
und nicht wenige Männer.

2. Die Normalen. Vermögen leidlich so
viel (oder so wenig) zu begreifen, als im Lehr-
plan der Gymnasien gefordert wird.

3. Die Gutbefähigten. Von ihnen wird
mehr verlangt als von Gruppe 2. (Ingenieure,
Nautiker, Physiker etc.)

4. Die eigentlichen Mathematiker.
Die auch für die höhere Mathematik be-
fähigt sind.

5. Die mathematischen Genies.
Mathematiker, die neue Probleme etc. bringen.

Das mathematische Talent wird mit auf
die Welt gebracht, nicht erworben und gleicht
in dieser und in mancher anderen Beziehung
vollständig den Künsten im engeren Sinne
des Wortes. Es ist nicht nothwendigerweise
den anderen Fähigkeiten des betreffenden
Individuums proportional, kann bei großer
Intelligenz klein sein und vice-versa. Ist es
stark, dann zeigt es sich schon in früher
Jugend und erinnert an die Kunsttriebe der
Thiere (F. K. F. Gauß). Dem musikalischen
Talent lässt es sich insofern vergleichen, als es
im Vererbungsfalle (der allerdings höchst selten
eintritt) vom Vater (cf. Familie Bernoulli) er-
erbt wird. (Für das dichterische Talent und
die wissenschaftliche Begabung sollen die Fähig-
keiten der Mutter von größerer Wichtigkeit
sein). Möbius hat als Specialsitz des mathe-
matischen Talents im Menschen ein beson-
deres Organ entdeckt, das er »das mathe-
matische Organ« nennt. Das mathematische
Talent ist etwas Selbständiges, sozusagen: eine
umschriebene Geistesfähigkeit — und dieser be-
sonderen Geistesbeschaffenheit entspricht auch,
wie es scheint, eine körperliche Besonderheit.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 11, S. 178, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-11_n0178.html)