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Es war Möbius aufgefallen, dass bei seinem
Großvater, einem Mathematiker, die Um-
randung des linken Auges eine ganz eigen-
thümliche Bildung verrieth, und zwar war der
äußere obere Augenhöhlenwinkel ungewöhnlich
stark entwickelt. Als nun Möbius zufällig in
Galls Werken diese eigenthümliche Bildung als
Merkmal des Zahlensinns beschrieben
fand, war seinen Untersuchungen eine neue
und bestimmte Richtung gegeben. Auf dieses
Merkmal hin wurden Mathematiker, die ihm
natürlich nur in geringer Zahl zur Verfügung
standen, und circa 300 Büsten, Masken, Porträts
gestorbener und lebender Mathematiker unter-
sucht. Das Merkmal fand sich bei allen ohne
Ausnahme, während bei Tausenden von Nicht-
mathematikern, an denen die Gegenprobe ge-
macht wunde, nichts Ähnliches zu finden war.
Auch bei Kindern mit mathematischer Be-
gabung ließ sich das »mathematische Organ«
bereits erkennen. Die starke Entwicklung des
äußeren oberen Augenhöhlenwinkels ist gleich-
bedeutend mit einer Erweiterung des äußeren
Winkels der vorderen Schädelhöhle (Stirnecke),
in die das vordere Ende der dritten Stirnwin-
dung des Gehirns zu liegen kommt. In diesem
Gehirntheil ist — nach Möbius — der Sitz
des mathematischen Talents (wie anderer-
seits der hintere Theil dieser Windung der Sitz
der Sprache ist). Die dritte Stirnwindung ist
aber nur dem Menschen eigentümlich (den
Thieren fehlt sie und ist selbst bei anthropoiden
Affen nur rudimentär entwickelt). Der Mensch
allein hat eine articulierte Sprache und auch
das mathematische Talent ist eine specifisch
menschliche Anlage. Dieser Umstand weist
gleichfalls auf die dritte Stirnwindung als Sitz
der mathematischen Fähigkeiten hin. — Wie
das Sprachcentrum wird auch das mathema-
tische Organ (die starke Entwicklung des Augen-
höhlenrandes) größtentheils links gefunden.
Beim weiblichen Geschlecht, das für die Auf-
fassung von Größen- und Zahlenverhältnissen
sehr wenig befähigt ist, bildet gerade, was
hervorgehoben zu werden verdient, die geringe
Ausbildung des Augenhöhlenrandes ein unter-
scheidendes Merkmal! Die Köpfe jener Männer,
die sehr wenig Zahlensinn, resp. mathematisches
Talent bekunden, erinnern in dieser Beziehung
an die weibliche Stirnecke. Je größer die
mathematische Anlage, desto ausgebildeter ist
— kann man allgemein formulieren — die
Stirnecke. Die Rasse scheint keinen großen
Unterschied zu machen. Auch bei mathe-
matisch begabten Japanern (bei Japanern im
allgemeinen scheint die Stirnecke nur wenig
ausgebildet zu sein) hat Möbius das »mathe-
matische Organ« gefunden. — Bis jetzt sind
sieben Mathematikergehirne untersucht worden:
von Rud. Wagner (Gauß und Dirichlet), von
Thomas Dwight (Wright)), von Wilder (Oliver),
von Bastian (de Morgan), von Gustav Retzius
(Gylden), von Hansemann (Helmholtz). Alle
Untersucher geben an, die Stirnwindungen
seien ungewöhnlich entwickelt gewesen. Hätten
die Forscher Galls Angaben gekannt, so
hätten sie auf die Beziehungen zwischen Stirn-
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ecke und dritter Stirnwindung achten können.
Vielleicht wären sie dann zu bestimmteren
Ergebnissen gelangt.
Über die Selbständigkeit der MUSIKALI-
SCHEN Centren des GEHIRNS spricht
Wegener in Dr. J. H. Bechholds »Um-
schau« (IV, 6). Die Selbständigkeit der
musikalischen Gehirn-Centren gegenüber den
Functionen derjenigen Rindengebiete, die den
übrigen akustischen Wahrnehmungen (in-
sonderheit der Sprache) dienen, kann kaum
mehr bezweifelt werden, da nach den klini-
schen Erfahrungen und experimentellen Unter-
suchungen angenommen werden muss, dass
die verschiedenen Arten der Gehörs-Wahr-
nehmungen an die einzelnen Theile des
Temporal-Lappens (Gehirntheil an der Schläfe)
in selbständiger Weise gebunden sind. Dies
zeigt sich besonders bei der als Amusie
( Verlust der Tonwahrnehmung) bezeichneten
Störung, die von der Aphasie ( Verlust des
Sprachverständnisses und der Sprache) unab-
hängig ist, sodass sowohl Fälle von Aphasie
ohne Amusie, als auch solche von reiner
Amusie ohne Aphasie beobachtet worden sind.
Diesbezügliche Untersuchungen wurden
von W. Larionow, Munk, Turner, Ferrier u. a.
an dem Gehirn von Hunden vorgenommen.
Es zeigte sich, dass das vordere Drittel des
Schläfen-Lappens der Wahrnehmung der hohen
Töne, das mittlere Drittel der Wahrnehmung
der Töne mittlerer Höhe, das hintere
Drittel der Vermittlung der tiefen Töne,
Stimmen und Geräusche dient. Ferner ergab
sich, dass in der Rinde des Schläfen-
Lappens die einzelnen Ton-Centren in
strenger Reihenfolge, die der Ton-
Scala entspricht, angeordnet sind.
Die VORGEBURTLICHE BEEIN-
FLUSSUNG des Menschen behandelt Hofrath
Prof. Max Seiling in einem sehr beachtens-
werten Artikel der »Neuen Heilkunst«
(Nr. 5, 1900. Halbmonatsschrift. Herausgegeben
von Reinhold Gerling). Der Aufsatz geht auf
eine Nachlass-Schrift Carl du Prels »Die vor-
geburtliche Erziehung als Mittel zur Menschen-
züchtung« (Jena, bei H. Costenoble) zurück,
die in knapper Form die Tragweite dieses
ganz unbeachtet gebliebenen Problems ent-
wickelt. Hier wäre auch an Henry Wrights
Broschüre »Über die vorgeburtliche Erziehung
oder über den Einfluss der Mutter auf
den Charakter und das künftige
Schicksal ihres Sprösslings während
seines vorgeburtlichen Lebens« (Leipzig, bei
Leon Douffet) zu erinnern. — Bei der vor-
geburtlichen Erziehung handelt es sich um
erzieherische Maßregeln, die während der auf
die Zeugung folgenden, circa neunmonatlichen
Lebensperiode von der Mutter zu beachten
sind. Dass Eindrücke, die eine Schwangere
empfängt, auf die Leibesfrucht übertragbar
sind, ist durch die als »Versehen« bekannte
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