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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 256

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RUNDSCHAU.

hat relativ sechsmal mehr Hirn als ein Neufund-
länder, und ein neugeborenes Kind fünfmal
mehr als sein Vater. Vergleicht man nun
Männer und Frauen von gleicher Statur
und gleichem Körpergewicht
, so ergibt
sich als durchschnittliches Resultat, dass der
Mensch männlichen Geschlechts annäherungs-
weise 10% mehr Gehirnsubstanz besitzt als
der weibliche. — Selbstverständlich gestatten
diese Erhebungen, meinen wir, keineswegs
den Schluss auf die absolute geistige Superio-
rität des Mannes, von der man heute noch
ernstlich zu fabeln wagt.

Dem Studium der SINNE des PRIMITIVEN
MENSCHEN war, wie die »Umschau« (IV, 25)
mittheilt, die jüngste Forschungsreise des
Ethnologen Dr. Rivers (durch Neu-Guinea
und längs der Torrestraße) gewidmet; in drei
Vorträgen hat er darüber vor einiger Zeit
(Royal Institution, London) eingehend be-
richtet. Es galt, die fast allgemein ange-
nommene Ansicht, dass die Sinne der Primi-
tiven — und namentlich ihr Gesichts- und
Gehörssinn — weit schärfer entwickelt seien
als die der Culturmenschen (eine Anschauung,
die sich in Lehrbüchern, Romanen und Jugend-
erzählungen vorfindet) endlich einmal mit
gelehrtem Apparat auf ihre Richtigkeit zu
prüfen. Unter anderem ist es eine Frage der
Experimental-Psychologie, ob diese angebliche
Überlegenheit der Sinne auf eine größere Seh-
und Hörschärfe oder lediglich auf eine stärkere
und geübtere Beobachtungskraft zurückzu-
führen sei. Rivers, der seine Untersuchungen
vornehmlich an Murray-Insulanern (Papuas)
angestellt hat, ist nun zu folgenden Resultaten
gekommen: Durch unermüdliche Beachtung
aller kleinen Details in einer ewig gleichen
Umgebung gelangen diese Wilden zu einem
sehr intensiven Beobachtungsvermögen. Diese
ausschließliche Beschränkung auf das sinnlich
Wahrnehmbare
, Losgelöste, die eine er-
hebliche Energie consumiert, macht ihnen aber
die Entwicklung jeder höheren Fähigkeit un-
möglich. In der Landschaft beispielsweise sehen
die Primitiven gleichfalls nur eine Summe
von Einzelheiten — jede Empfindung für

die Schönheit der Gesammt-Scenerie fehlt
ihnen vollends. Da sie im übrigen ihr Auge
(durch fortwährende Übung) auch den ent-
ferntesten Gegenständen anzupassen gelernt
haben, ist anerzogene (und dann wohl vererbte)
Weitsichtigkeit in ihren Ländern fast ebenso
verbreitet, wie die Kurzsichtigkeit in unseren
Culturstaaten. — Interessant sind auch die Unter-
suchungen über den Farbensinn der Wilden.
Der Culturzustand eines Volkes steht, meint
Rivers, in directem Verhältnis zu der Anzahl
der Farbenbenennungen, über die es verfügt.
Bei den heutigen Naturvölkern gleichen die
Farbenbezeichnungen im wesentlichen denen
Homers, dem ja, wie überhaupt den Alten,
nur eine geringe Zahl von Farbenbenennun-
gen zu Gebote standen, woraus Gladstone
und nach ihm Geiger den Schluss zogen,
dass der Farbensinn ursprünglich rudimentär
gewesen sei und sich erst allmählich im Laufe
der Menschheits-Entwicklung ausgebildet habe.
Rivers, der die Farben-Nomenclaturen bei den
verschiedenen Rassen verfolgte, fand nun u. a.,
dass die Eingeborenen von Nord-Queensland
nur für drei Farben Bezeichnungen haben;
den Kiwai-Insulanern (englisch Neu-Guinea)
gilt »blau« gleich »schwarz«; den Bewohnern
der Torrestraße ist »blau« gleich »grün« etc.
— Auch der Gehörs- und Geschmacksinn
der Primitiven lässt mancherlei zu wünschen
übrig. Für »bitter« (eine unserer ausgesprochen-
sten Geschmacks-Empfindungen) haben sie
keinerlei Bezeichnung. — Geringere Empfind-
lichkeit gegen Schmerz ist ihnen nicht abzu-
sprechen. Dagegen fehlt ihnen die Fähigkeit,
Schmerz mit Standhaftigkeit zu ertragen.
— Der Begriff des Körpergewichts ist ihnen
fremd, auch fehlt ihnen das Wort hiefür;
trotzdem wissen sie, die Schwere der Dinge
instinctiv, was seltsam ist, weit richtiger abzu-
schätzen als die erfahrensten Europäer. — —
Rivers kommt schließlich zu dem End-Ergebnis,
dass die »ungewöhnliche Sinnesschärfe« der
primitiven Menschen, von der man allenthalben
ohne sonderliche Berechtigung zu sprechen
pflege, nur in der geübteren Beobachtungs-
weise und in der genaueren Vertrautheit mit
den Objecten ihrer Umgebung bestehe und
auch nur darauf zurückzuführen sei.


Herausgeber: Constantin Christomanos und Felix Rappaport. — Verantwortlicher Redacteur:
Anton Lindner.

K. k. Hoftheater-Druckerei, Wien, I., Wollzeile 17. (Verantwortlich A. Rimrich.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 256, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-14_n0256.html)