Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 255

Die Berliner Secessionsbühne* Melancholische Gesichtsausdruck und seine Bahn, Der Gehirn des Weibes* (Lindner, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 255

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RUNDSCHAU.

Echtheit zu verwenden. Dieses Zusammen-
wirken von Malerei, Dichtung und Musik
soll Einblick gewähren in die Verwandtschaft
der schwesterlichen Künste und scheinbar
Divergierendes organisch zusammen-
klingen
lassen zu einem harmonischen Kunst-
Ganzen, wie das Wagner ersehnte. Dies
ist allerdings nur dann möglich, wenn unsere
ersten bildenden Künstler, die der Bühne und
deren Entwicklung bislang ferngestanden, Ver-
trauen zu den vorstehenden Ideen fassen und
diesem Wollen ihr Können zur Verfügung
stellen. Nachfolgend; Werke sollen im ersten
Theil der Spielzeit zur Aufführung kommen:
»Komödie der Liebe« von Henrik Ibsen
»Königssöhne« von Helge Rode — »An des
Reiches Pforten« von Knut Hamsun — »Tod
des Tintagiles« von Maurice Maeterlinck
»Kreuzigt ihn« von Carlot Reuling.

Auch die Ankündigungen zu den Vor-
stellungen sollen einen stilechten Charakter
tragen; den Theaterzetteln wird man reichen

zeichnerischen Schmuck geben, wie dies halb-
wegs schon bei den bisherigen Darbietungen
geschehen. Es soll auch der Versuch gemacht
werden, den Theateraffichen an den Säulen durch
künstlerische Ausführung ihre Einförmig-
keit zu nehmen. Um hierin Besonderes zu
leisten, erlässt die Leitung der Bühne soeben
ein Preisausschreiben an die Maler und Zeichner,
nicht zuletzt in der Zuversicht, dass aus der
aufblühenden Bühne auch den andern Künsten
neue Anregung zufließen werde.

Im Anschluss an diese Bemerkungen sei hier
an die Ausführungen des Darmstädter Professors
und Malers Peter Behrens über die ästhe-
tische Uncultur der Bühnen-Decoration
(»W. R.«, IV, 12) erinnert.—Bedauerlich ist,
dass sich P. Martins Unternehmen die irre-
führende Bezeichnung »Secessions-Bühne«
beilegt. Das zeitgemäße Bestreben, der Bühne
eine einheitliche Cultur zu geben, hat mit den
Programmkünsten der Secessionistik wohl gar
nichts gemein. a. l.

RUNDSCHAU.

»Der MELANCHOLISCHE GESICHTS-
AUSDRUCK und seine Bahn« ist der Titel
eines Vortrags, den Dr. Kirchhoff (Neustadt)
vor kurzem zu Frankfurt a. M. gehalten; darüber
referiert u.a. Prof. Mendels »Neurologisches
Centralblatt« (XIX, 10) in eingehender Weise. —
Das melancholische Auge zeigt in der Regel einen
matten Glanz. Weil die Lidspalten der Melan-
choliker eng sind, leuchtet ihr Auge nur beim
Aufblick; ihre Augensterne erstrahlen dann
ganz plötzlich. Auch der Mangel an Thränen-
feuchtigkeit trägt zu der Glanzlosigkeit (Um-
flortheit) des Melancholiker-Auges bei. An-
haltender Kummer drängt die Thränen zurück.
— Im übrigen: das Auge ist nicht an und für
sich der »Spiegel der Seele«; erst die Bewe-
gungen des Augapfels und die Muskelbewegungen
in seiner nächsten Umgebung geben ihm das
ausdrucksvolle Feuer; denn sieht man ein Auge
beispielsweise durch ein entsprechend großes
Loch eines Papierstückes an, das die übrige
Gesichtspartie verdeckt, so erscheint es ohne
Leben. Im speciellen: sehr charakteristisch
für den Gesichtsausdruck melancholischer In-
dividuen ist die Wirkung der sogenannten
Gram-Muskeln (des Stirnmuskels, der Augen-
brauenrunzler und der Ringmuskeln des Auges).
Oft bilden sie eine rechtwinkelige Furchung der
Stirn. Auch die Stellung der Augen ist
wichtig; erst aus der Verbindung mit ihr ent-
steht das typische Bild der melancholischen
Physiognomie. Häufig ist die horizontale Fur-
chung der Stirnhaut auf das mittlere Drittel
der Stirn beschränkt; die inneren Brauen-Enden
werden unter Bildung kleiner senkrechter Falten

einander stark genähert. Nicht selten geht bei hefti-
ger Erregung die Herrschaft über die willkürlichen
Augenmuskeln, die ordnende Macht des Willens
über die unwillkürliche Mimik verloren. —
Die Mundspalte des Melancholikers bleibt ge-
wöhnlich geschlossen. Im stillen Affect sinken
die Mundwinkel deutlich herab; die Gesichts-
züge verlängern sich und die Oberlippe scheint
mechanisch stärker fixiert durch ihre Umgebung.
— — Bedeutungsvoll im allgemeinen ist auch
die Thatsache, dass sich der große körper-
liche Schmerz mehr in der unteren, der tiefe
seelische Schmerz aber weit eindringlicher in
der oberen Gesichtshälfte ausprägt. Psychi-
scher Kummer zeigt sich im Stirntheile des Ge-
sichts, körperliche Qual und Wollust treten am
nachdrücklichsten in der Mundgegend hervor.
— —Das Centralorgan für Affecte und Gemüths-
bewegungen dürfte in jenem anatomischen
Complex zu suchen sein, der sich aus der
Körperfühl-Sphäre, den Vorderhirn-Ganglien
und den Sehhügeln zusammensetzt. In diesem
Complex verläuft auch die Bahn des melan-
cholischen Gesichts-Ausdrucks.

Über das GEHIRN des WEIBES finden
sich interessante Daten in »Nineteenth Century«.
Man weiß, dass das Gehirn des Mannes im
großen und ganzen ungefähr um 10—12%
mehr wiegt als das weibliche Hirn. Aber im
Verhältnis zu ihrem Körpergewichte besitzt die
Frau um circa 6% mehr Gehirn als der Mann.
Die kleinen Thiere haben stets verhältnismäßig
mehr Gehirn als die großen. Ein Dachshund

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 14, S. 255, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-14_n0255.html)