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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 18, S. 326

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RUNDSCHAU.

esse zuwenden, besucht. Man sah unter den
Theilnehmern berühmte Philosophen, Geist-
liche, Theosophen, Occultisten, Ärzte, Physio-
logen. Auch einige gelehrte Brahmanen ver-
folgten mit großem Interesse die Vorträge.
Prof. Th. Ribot vom Collège de France
präsidierte. Zum Vicepräsidenten war Prof.
Ch. Richet von der medicinischen Facultät
in Paris, zum Generalsecretär Prof. Pierre
Janet
vom College de France gewählt worden.

Der Congress war in 6 Sectionen ge-
gliedert, nämlich: i. in die Section für com-
parative Psychologie unter dem Präsidium
des M. Jocs Delage, Professors der Zoologie
und vergleichenden Anatomie an der Sorbonne;
2. in die Section für introspective Psycho-
logie unter dem Präsidium des M. G. Séailles,
Professors der Philosophie an der Sorbonne;
3. in die Section für Experimental-Psycho-
logie unter dem Präsidium des M. A. Binet;
4. in die Section für pathologische Psy-
chologie unter dem Präsidium des Dr. Mag-
nan, Mitglieds der medicinischen Akademie
von Paris; 5. in die Section für Psychologie
des Hypnotismus und der Suggestion
unter dem Präsidium des M. Bernheim,
Professors an der medicinischen Facultät von
Nancy; 6. in die Section für sociale und
criminelle
Psychologie unter dem Prä-
sidium des M. Tarde, Professors der modernen
Philosophie am Collège de France.

Es sprachen u. a.: Dr. J. Paul Hartenberg
über die Psychologie der Furcht, Dr. Fritz
Schultze über die Psychologie der wilden
Völker, Abbé Ch. Denis über die Gläubigkeit,
Wladimir Tschisch über den Schmerz, Dr. N.
Vaschide über die schöpferische Einbildungs-
kraft des Kindes, Dr. Antoine Frésie Pavicie
über das Verhältnis der Seele zum Körper,
Dr. Paul Carus über die Identität und Con-
tinuität des Ich, Ch. Rolland über ästhetische
Kritik, Victor Basch über die Universalität
des ästhetischen Urtheils, Nicolas de Seeland
über die Ursachen der ungleichen Criminalität
der Geschlechter, Dr. Séglas über die Phä-
nomene der psychischen Hallucinationen, Dr.
Jean Philippe über das Bewusstseins-Problem
in der Experimental-Psychologie. Der Gegen-
satz zwischen spiritualistischen und
materialistischen Anschauungen trat, wie
vorauszusehen war, besonders scharf in den
Debatten hervor. Gewisse Psychologen scheinen
trotz aller Beweise gegen den Materialismus,
welche die letzten Decennien geliefert haben,
die Psychologie ohne — Psyche noch immer
in ihr Herz geschlossen zu haben.

Der Congress für Hypnologie wurde
am 12. August im Palais Louis XVI. eröffnet.
Unter den zahlreichen Theilnehmern befanden
sich viele auswärtige Ärzte. Der bekannte
Forscher auf dem Gebiete des Hypnotismus
und der Suggestion, Dr. Voisin, wurde zum

Präsidenten ernannt. Am Präsidententische
saßen außer ihm noch Prof. Raymond, Ehren-
präsident, und Dr. Bérillon, ständiger
Secretär der »Société d’hypnologie«, sowie
Prof. Gariel, Delegierter der Regierung, Prof.
Bernheim und Prof. Liébault von Nancy.

Dr. Voisin sprach über die wissen-
schaftliche Entwicklung des Hypnotismus
und Suggestionismus und über die Bedeu-
tung der neuen Wissenschaft für Therapie und
Pädagogik. Prof. Raymond behandelte hierauf
die zwischen den Anhängern Charcots und
denen der Schule von Nancy (Bernheim, Lié-
bault etc.) herrschenden Controversen (über
die Nothwendigkeit der Suggestion zur Herbei-
führung hypnotischer Zustände und über die
Behauptungen Charcots bezüglich der Verwandt-
schaft hypnotischer und hysterischer Phäno-
mene). Am folgenden Tage vormittags be-
suchten die Congress-Theilnehmer unter der
Leitung des Dr. Voisin, des Chefs der hyp-
notischen Abtheilung, die Salpêtriere.

Der zweite Congress-Tag brachte Vor-
träge von Dr. Vogt, Prof. Farcz und
Dr. Felix Régnault über den Wert des
Hypnotismus als Mittel psychologischer For-
schung, von Dr. Van Rentherghem über
die Entwicklung der Psycho-Therapie in Hol-
land und von Dr. Régis über die Suggestion
bei Behandlung von Delirien. Am folgenden
Congress-Tage wurde speciell die Stellung der
Gesetzgebung zum Hypnotismus von Dr.
v. Schrenck-Notsing, Dr. Ch. Juliot,
Dr. Henry Lemesle, Prof. Joire und Prof.
Boirac erörtert. In der Sitzung vom 15. August
behandelten zunächt Dr. Paul Magnin und
J. Crocq die Beziehungen des Hypnotismus
zur Hysterie. Dr. Tamburini, Bérillon, Cullève,
P. Janet, A. Charpentier machten diesbezüglich
interessante Mittheilungen aus ihrer Praxis. Hier-
aufsprachen Dr. Torkasky, A. de Jong, de la
Haye und Lloyd Tucks über die erfolgreiche
Anwendung des Hypnotismus und Suggestionis-
mus bei der Behandlung der Geisteskrankheiten
und des Alkoholismus. Am nächsten Tage
besuchten die Congress-Mitglieder das Institut
psycho-physiologique
der Rue Saint André
des Arts
. In der Nachmittags-Sitzung hielt
sodann Dr. Bérillon einen längeren Vortrag
über die Anwendungen des Hypnotismus auf
die allgemeine Pädagogik und mentale Ortho-
pädie. In der letzten Sitzung am folgenden
Tage erstatteten Bérillon und Paul Farcz
Bericht über den Redactions-Entwurf eines
Vocabulariums zur Terminologie des Hypno-
tismus und der damit zusammenhängenden
Phänomene. Abends besuchten die Congress-
Mitglieder die bekannte Heil-Anstalt des Dr.
Raffegeau in Vésinet. Der Congress hat derart
die schwebenden Fragen der Hypnologie
neuerdings beleuchtet, auch wiederholt Gelegen-
heit zur Beobachtung eines neuen und inter-
essanten Thatsachen-Materials geboten.

Th.

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Herausgeber: Constantin Christomanos und Felix Rappaport. — Verantwortlicher Redacteur:
Anton Lindner.

K. k. Hoftheater-Druckerei, Wien, I., Wollzeile 17. (Verantwortlich A. Rimrich.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 18, S. 326, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-18_n0326.html)