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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 19, S. 327

Text

WAHRHEIT IN DER LEGENDE.
Von MULTATULI.*

Lieben, wissen, kämpfen — alles
zusammenzufassen in: Bewegung — da
haben wir die psychologische Analyse des
Zieles, das die Jugend anzieht, die zugleich
auch einige Erklärung gibt von der Welt-
geschichte, besonders was die Zeiten an-
geht, die wir gewohnt sind, düstere zu
nennen, die jedoch in gewissem Sinne
heller uns vor Augen stehen, als die so-
genannt streng historischen.

Nehmen wir einmal an, dass nichts
ganz wahr ist, so werden wir zugeben
müssen, dass man der Wahrheit häufig
leichter sich nähert bei der Zergliederung
einer Mythe, als wenn man sie sucht in
den vorsätzlichen Lügen der Geschichts-
schreiber.

Es sind aber auch, wenn auch nicht
Absicht im Spiel ist, die Einflüsse, die
zur Verfälschung der Geschichte führen,
zahlreich und mächtig. Und die Wahr-
scheinlichkeit der Verbreitung des Glaubens
an diese Unwahrheiten ist größer, wenn
sie uns mit Gerichtsboten-Wichtigkeit als
ein »Bericht von Begebenheiten« auf-
getischt werden, als wenn sie, ohne An-
spruch auf buchstäbliche Richtigkeit, das
leicht erkennbare Kleid kindlicher oder
dichterischer Behandlung tragen. Niemand
wird nach dem Lesen von Phaedrus oder
Lafontaine glauben, dass Füchse und Raben
sprechen können, wohl aber befinden sich
noch immer viele in dem Wahn, dass
Wilhelm der Schweigsame so ein besonderer
Vater war eines Vaterlandes, das niemals
sein Vaterland gewesen ist.

So aufgefasst, ist da mehr Wahrheit
in der Genesis, als in der Geschichte, und
was man Lüge nennen möchte in beiden,
ist verzeihlich in der ersteren, weil der
Dichter nicht voraussehen konnte, dass
man einmal seine Visionen als Ausgangs-
punkt benützen würde, um die Menschheit
mit Räubersgewalt zu überfallen und sie

in Fesseln zu schlagen. Es ist wahrlich
nicht des Erzählers Schuld, wenn der
Hörer seiner mit Schmuck angethanen
Erzählung eine Nebensache als Haupt-
sache ansieht, oder — ärger noch — wenn
dieser als geschehenes Factum ansieht, was
nur als Spiel der Einbildung gegeben wurde.

Doch meistens ist dies letztere nicht
so. Der Dichter — der wirkliche natürlich;
von Versemachern rede ich nicht — der
Dichter sammelt Baustoffe und gibt ihnen
Ordnung, und »Macher« — ποιητής — ist
er nur, gleichwie es der Bauherr ist, der
Materialien sucht, auswählt, zusammen-
bringt und in bestimmter Weise verbindet.
Dichter und Baumeister geben dem, was
angehäuft wurde auf ihrem Werkplatz,
die Form; aber der Inhalt — Sinn oder
Raum — von beider Werk war nicht ihr
Eigenthum. Der machte — lange vor
ihnen — einen Theil des unendlichen
Seins aus.

Ja, ja, es ist allzeit Wahrheit in der
Poesie, und wo wir sie nicht entdecken,
liegt die Schuld an uns. Es ist eine Äuße-
rung saftloser Engherzigkeit, der Poesie
zu misstrauen, und um vor Betrug ge-
sichert zu sein, müsste man gerade der
Prosa mit Vorsicht Glauben schenken. Der
Staatsdiener, der Philosoph, der Philan-
throp, der Statistiker, der weder Freude
noch Schmerz durchscheinen lässt in
Beweisführung oder Ziffernangabe
glaube mir, sie haben so wenig Anspruch
auf Vertrauen, wie der oberflächlichste
Betrachter. Gefühl, Phantasie und
Muth sind unentbehrliche Triebfedern
zur Anspornung des Mannes, der wissen
will. Und darum ist Philosophie eins
mit Poesie.

Die Wahrheit in all ihrer Einfachheit
ist herzlich, ist bilder- und farbenreich.
Die Lüge geradlinig, abgezirkelt und
nüchtern.

* Erscheint hier zum erstenmale in deutscher Sprache. (Übersetzt von Wilhelm Spohr .)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 19, S. 327, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-19_n0327.html)