|
Ich will eben dabei stehen bleiben, die
verhältnismäßige Aussicht auf Wahrheit in
der Poesie zu schätzen, und die Gefahr
bei der Prosa, Lügen zu erhalten.
Psyche nähert sich dem schlafenden
Amor. In behutsamem Gange schreitet
sie langsam vor. Es ist Scheu in ihrem
Gang, Furcht vor Straucheln, Angst vor
dem Erreichen ihres Zieles. Aber all diese
Zurückhaltung ist im Streite mit ihrem
Blick, der den Raum durchbohrt und
flammenden Widerspruch ausstrahlt gegen
die Trägheit ihrer Füße. Nicht für ihre
Schritte schießt die hochgehaltene Lampe
ihr Licht, es fällt auf Amor. Sie selbst
schreitet im Dunkel. Allein auf den Gegen-
stand ihres Verlangens fluten die Strahlen,
die eigentlich den Weg zu erhellen dienen
sollten, den sie zurückzulegen hat, um ihn zu
erreichen. Daran denkt Psyche nicht. Liegt
auf diesem Wege ein Hindernis sie
wird straucheln. Ein Abgrund sie
stürzt hinunter. Wie der untüchtige, aber
leidenschaftliche Seemann steuert sie ge-
radeswegs auf den Hafen, gleichgiltig, ob
da Klippen und Felsen liegen zwischen
diesem Hafen und seinem Kiel Sie
kommt näher, näher! Und wie sie dem
schlummernden Knaben ganz nahe ist,
weckt sie ihn. Durch wohllautendes Rufen?
Durch Liebkosung? Durch einen Seufzer?
Nein. Das hatte sie gewollt, doch es lag
eine weite Kluft zwischen ihrem Wollen
und ihrem Wagen. Sie meinte, dass sie
den Knaben wecken werde o gewiss!
So dachte sie, als der Abstand zwischen
seinem lieblichen Bilde und ihrem brennen-
den Verlangen noch nicht beseitigt war.
Doch nun? Nun? Ihm so nahe? Sie er-
schrickt schier vor dem Genuss des Er-
reichens. Sie hatte Kraft zu nahen, doch
nicht die Stärke, um zu bleiben. Erschöpft
vom Begehren, entsinkt ihr der Muth,
der nöthig scheint zum Besitz, und er-
schüttert vom Zwiespalt der Wahl zwischen
Flucht und Genießen zittert die ermüdete
Hand, die die Lampe hält Amor
erwacht durch den Schmerz der Brand-
wunde
Lügen! — sagt der Philister. Wahr-
heit, Wahrheit! — antworte ich. Ja,
wahrlich, so ist es! So in der That er-
wacht die Liebe, wachgebrannt durch
den Schmerz, der die Folge ist der
|
ungeschickt gelenkten ersten Sehnsüchte
der wagemuthigen Seele. — Wo bleibt
deine Lügenprosa neben dieser Wahrheit,
o nüchterner Kaufmann, der du elf zehn
nennst, oder zehn sieben, oder viel wenig,
oder wenig alles, je nachdem es dir dient
bei deinem Schachern auf der Börse oder
im Laden? — Wo bleibt daneben deine
Prosa, Statistiker, der du allgemeinen
Wohlstand vermeldest, während der größte
Theil deiner Mitmenschen wegstirbt in
Entbehrungen und Kummer? — Wo bleibt
neben der Wahrheit der Mythe deine
Wahrheit, o Geschichtsschreiber, der du
mit trockenem Ernst uns erzählest von
Prinz Dingsda, von König Soundso, als ob
da nimmer ein Volk stände unter, neben
uder über solchem Potentätchen? Wo bleibt
deine Wahrheit, o Staatsdiener, der du
in frostiger Würde dich anstellst, als
glaubtest du wirklich das »persönliche
Centrum« zu sein der Menschheit? — Wo
bleibt eure Wahrheit, Gottverkündiger,
die ihr hausiert mit Geschichten, an die
ihr selbst nicht glaubt? — Wo bleibt eure
Wahrheit, Prediger, Salbader, Redenhalter,
Sprech-, Schwatz-, Raisonnier-, Demon-
strier-, Plaidier-, Verhandelkrähne, nach
Maßgabe von soundsoviel Worten per Stunde
und soundsoviel Pfennigen pro Wort
Gefühlsklauber, Weisheitskrämer in Sätzen
groß und klein, per Eimer und nach
Maß Wo bleibt euer aller Wahrheit
neben dem tiefen Sinn, der da liegt in
den Dichtermärchen der jungen Menschheit?
Ich begreife die Genesis nicht. Doch
siehe, eher würde ich geneigt sein, etwas
anzunehmen von der seltsamen Paradieses-
Geschichte, als dass ich glaubte an die
Vortheile, die man erreichen soll, indem
man Geld schießt in diese »Bank«, in
diese »Gesellschaft zur Ausbeutung«, in
diese »Lebensversicherung« und dergleichen.
Es ist Wahrheit in dem Roman von Hiob,
von den Maccabäern — ein herrliches
Heldengedicht! — doch es ist nicht Wahr-
heit in unseren Kammerreden. Sowohl da
wie in der Genesis werden die Thatsachen
vergewaltigt. Doch der Unterschied liegt
in der Absicht. Die alten Dichter bringen
gegen ihren Willen den Leser in Schlummer
und zu irriger Vorstellung. Die heutigen
Prosaisten lügen mit Vorbedacht und be-
zahlen nicht einmal das Erreichen ihres
|