Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 19, S. 332

in der Legende Arthur Rimbaud (Multatuli, WahrheitPanizza, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 19, S. 332

Text

PANIZZA: ARTHUR RIMBAUD.

die Sternkunde. Gegenüber Mesmer und
Cagliostro steht Alexander von Humboldt.

»Siehe da Eva!« war die erste Ant-
wort, die die Thatsachen gaben auf die
Bitte um Erkenntnis. »Du willst wissen
liebe!« sprach die Nothwendigkeit
zu Adam.

Und zur Stunde darauf folgte bei
ihm wie anderswo angebliche Sünde
als unumgängliche Folge eines wohl-
thätigen Verbotes, um ihn fortzutreiben
aus einem Paradiese, wo Friede und Ruhe
wohnten, nach den wilden Revieren, die
ihm und seinem Geschlecht die Gelegen-
heit bieten sollten zu dem Kampfe, der
das Fortbestehen der Menschheit sichern
würde.

Wohlthätig war dieses Verbot gewiss.
Denn der unerschrockenste Dichter kann
nicht ersinnen, was schließlich aus
Faust geworden wäre, aus Adam und
also aus der Menschheit, wenn nicht
die Nothwendigkeit — der Gott, der
Paradiese schließt, weil das Fortbestehen
in Paradiesen unmöglich ist — uns alle
fortgepeitscht hätte auf den Kampfplan,
der Leben heißt. Noch heutzutage be-
steht das Verbot: »Du sollst nicht essen
von dem Baum der Erkenntnis

Unser Leben ist just immer und ewig:
Nahen dem Baume, Bemühen, die
Frucht davon zu pflücken, Kampf mit
den Hindernissen, die uns im Wege stehen

und die fortdauernd in dem Maße an-
wachsen, als uns das Wegräumen gelingt.
Dieser Streit ist unser Leben. Die Auf-
hebung dieses wohlthätigen Paradiesver-
botes wäre unser aller Todesurtheil, und
also hat der alte Dichter der Genesis
recht gesehen, als er rückwärtsdenkend
aus dem Bestehen der Menschheit die
Folgerung herleitete, dass ein- für allemal
das unbegrenzte Vordringen zur Erkennt-
nis verboten sein musste, just damit
immer etwas zu erreichen übrig bleiben
möge. Wieder muss ich hier die Bemerkung
machen, dass absolute Erkenntnis nicht
verboten ist: auf dass wir bestünden,
sondern dass wir bestehen: weil absolute
Erkenntnis unmöglich ist. Das Leben ist
ein Räthsel, sagt man. Richtig. Aber
wenn das Räthsel gelöst wäre, würde es
kein Räthsel sein, und also das Leben kein
Leben mehr sein. Es würde nicht sein.

Wie in der Genesis-Legende und in
dem ewig-wahren Drama von Faust, muss
auch die Wissbegier jedes aufgeweckten
Knaben, zusammenschmelzend mit der
Anziehungskraft, die ein unbedeutendes
Mädchen auf ihn ausübt, das Mittel bilden,
ihn auszurüsten für den Kampf, den er
zu führen haben wird. Das blühende Leben
selbst, das wir leben vom Kinde an bis
zum Greise, weist uns die Wahrheit an
in der Poesie, und es kennzeichnet die
brutal-dummen Lügen der Historie.

ARTHUR RIMBAUD.
Von OSCAR PANIZZA (Paris).

Im Laufe der nächsten Wochen wird
man Arthur Rimbaud, dem 1891 ver-
storbenen Dichter, in Charleville, seiner
Vaterstadt in den Ardennen, ein Denkmal
errichten. Es genügt wahrhaftig in Frank-
reich, einige gute Gedichte gemacht zu
haben, um auf den Sockel zu kommen
und bei den Unsterblichen einzukehren.
Rimbaud wurde nur 37 Jahre alt und von
dieser Zeit hat er nur wenige Jünglings-
jahre, man möchte sagen: Knabenjahre,
der Dichtkunst gewidmet. Er dichtete nur
vom Jahre 1869 bis 1873. Und dies war

sein 15. bis 19. Lebensjahr. Dann brach
er, unter dem Eindruck eines fürchterlichen
Erlebnisses mit Paul Verlaine, poetisch
und ästhetisch zusammen und empfand
von dieser Stunde an jede Beschäftigung
mit der Poesie als einen unüberwindlichen
Ekel. Und jetzt haben ihm die paar guten
Gedichte, die 1898 im Verlag des Mercure
de France
gesammelt erschienen, zur Glori-
fication verholfen.

Das besagte Ereignis steht in so nahem
Zusammenhang mit der geistigen Weiter-
entwicklung Verlaines vom Jahre 1871 an,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 19, S. 332, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-19_n0332.html)