Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 19, S. 333

Arthur Rimbaud (Panizza, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 19, S. 333

Text

PANIZZA: ARTHUR RIMBAUD.

und wird jetzt bei der Errichtung des Denk-
mals für den jungen Dichter wiederum so
sehr die Federn der Kritiker und Ästhe-
tiker in Anspruch nehmen, dass wir diesen
seltenen Fall, wo ein dreißigjähriger,
schon gereifter Dichter an einer jungen
ästhetischen Blüte sich berauschte und so
vollsaugte, dass diese letztere, ein acht-
zehnjähriger Jüngling, völlig erschöpft, ver-
nichtet und geknickt liegen blieb, an der
Hand der Quellen etwas näher beleuchten
wollen.

Verlaine, der während der Commune
Vorstand des Bureau de la presse gewesen
war und sich dann mit seiner Frau in
der Rue Campagne-Première niedergelassen
hatte, erhielt eines Tages ein Paket Ge-
dichte durch die Post, als deren Verfasser
sich ein gewisser Rimbaud bezeichnete,
der als sechzehnjähriger Knabe, nach Ab-
solvierung der classischen Studien, eben-
falls sich der Commune angeschlossen hatte
und jetzt, der Wachsamkeit der Versailler
Truppen glücklich entkommen, wieder auf
dem Lande bei seiner Mutter lebte. Beide
Verlaines, Monsieur et Madame, vermu-
theten in dem Sender einen Dreißigjährigen.
So vollendet waren die Gedichte, unter
denen sich so reife Dinge, wie Bateau Ivre
(Das trunkene Schiff), überhaupt die besten
Sachen, die Rimbaud gemacht hat, be-
fanden. Er wurde eingeladen, von einem
Sachverständigen und Kenner wie Verlaine
direct als Poet begrüßt, und kam. Verlaine
war nicht zu Hause. Madame empfieng ihn
und war erstaunt, einen sechzehnjährigen
Jüngling von großer Naivität vor sich zu
sehen — und wurde sofort misstrauisch.
Sie hatte richtig erkannt. Der junge Mensch
sollte ihr Leben zerstören und ihr den
Gemahl von der Seite reißen. Verlaine
kam nach Hause und war paff — épris
du miracle
— erholte sich aber und — bat
den jungen Mann, bei ihnen Wohnung
zu nehmen.

Es ist eigenthümlich, wie oft Menschen
bei zufälligen Begegnungen auf einander
wirken. Ohne die Begegnung mit Rimbaud
wäre Verlaine vielleicht ein braver, form-
vollendeter, ausgezeichneter Dichter ge-
worden, wie er es schon vorher war, ein
echter Parnassien. Durch die Begegnung
und das Zusammenleben mit Rimbaud ent-
zündet sich in ihm eine neue, compli-

cierte, hysterisch-religiöse Seite, er bekommt
plötzlich einen Stoff zum Anbeten, aus
einem männlichen, befruchtenden Princip
entsteht ein weiblich-aufnehmendes Prin-
cip, und aus der Glut der neuen Situation,
die Weib, Kind und häuslichen Herd zu-
grunde gehen lässt, entsteht der neue,
religiöse, katholisch-anbetende, sünden-
begehende, sündenabbüßende Verlaine, wie
wir ihn alle kennen und wie er inzwischen
die Bewunderung der Welt geworden ist.
Rimbaud hätte sich ohne das für ihn
unglückliche Zusammentreffen sicher zu
einem der hervorragendsten Poeten Frank-
reichs entwickelt, der er im Keime schon
jetzt war, aber er musste, ein rein viru-
lentes, männliches Princip, auf dieser
Bahn bleiben, seine männliche Activität
normal weiterentwickeln, nicht in eine
falsche Passivität hinuntergedrückt werden.
So wurde er, der impressionistisch-haltlose
Knabe, in zwittrige, seiner Naturanlage
entgegengesetzte Gefühle hineingetrieben,
glitt nach einem kurzen Eitelkeits-Rausch
aus — und, da die Poesie mit im Spiele
war, folgte für ihn die Ernüchterung auch
auf diesem Gebiete. Literatur, Dichtung,
fremde und eigene, wurde für ihn zum
Ekel und der Rest seines Lebens war
Trostlosigkeit und Dürre. Der Fall Ver-
laine-Rimbaud ist nicht nur nach der
poetischen Seite, nach der Seite der
Literatur, äußerst interessant, er ist auch,
medicinisch gesprochen, ein Schulfall für
die vielfach aufgestellte Lehre, dass in
uns die Qualitäten zu allen möglichen
Entwicklungen schlummern und dass es
ein Glück oder ein Unglück für uns ist,
ob wir im biegungsfähigen, impressio-
nistischen Alter glückliche oder unglück-
liche Begegnungen machen. Verlaine
war von Hause aus nicht homosexual
angelegt; dafür spricht seine Verhei-
ratung, die Erzeugung eines Kindes, seine
guten Schulgedichte im Stile der Par-
nassiens
, seine »Fêtes galantes«, mit denen
er sich bereits einen Namen gemacht hatte,
aber er wurde durch zufällige Berührung
und auf Grund einer Anlage, wie sie viel-
leicht die meisten Menschen besitzen,
homosexual, und dies war für ihn wie
für die Welt ein Glück. Denn diese neue
Pfropfung brachte den Stamm zu un-
erhörter Reife und erzeugte Rosen von

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 19, S. 333, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-19_n0333.html)