Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 19, S. 337

Über den Sinn des Lebens (Tolstoi, Leo)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 19, S. 337

Text

ÜBER DEN SINN DES LEBENS.
Von LEO TOLSTOI (Jaßnaja-Poljana).

Oft schon habe ich Bestürzung und
Trauer empfunden, als ich erkennen musste,
dass all das, was in mir so voller Klar-
heit ist (»Klarheit« ein schwacher Aus-
druck für das, was mein gesammtes Leben
ausmacht; denn ich lausche den Absichten
Gottes und kenne die Mittel, die uns zu
ihrer Erfüllung gegeben sind), den Anderen
dunkel und unsicher scheint.

So oft ich auf dem Wege von Tula
anhalte, um den Arbeitern eines Hütten-
werks bei ihrer Arbeit zuzusehen, muss
ich nothwendigerweise glauben, dass jedem
dieser Menschen eine besondere Aufgabe
zugewiesen wurde, deren Durchführung
seine Pflicht ist. Die ganze Natur ruft in
mir die nämliche Reflexion hervor. Jede
Pflanze, jedes Thier ward in die Welt
gesetzt, auf dass es jenem bestimmten
Endzweck genüge, für den es geeignete
Organe erhalten hat: Wurzeln, Blätter,
Fühler etc. Andererseits sehe ich, dass
dem Menschen neben jenen Organen, die
jedem Geschöpf gegeben sind, ein ganz
Besonderes: die Vernunft zutheil wurde,
die von ihm Rechenschaft über alle seine
Handlungen fordert.

Es ist unerlässlich, dass diese Vernunft
Befriedigung finde, und dass der Mensch
seine Lebensführung den Anweisungen
unterordne, die sie ihm gibt. Niemals
haben die Menschen in ihrem Leben einen
anderen Führer gehabt, niemals werden
sie einen anderen Führer haben, als ihre
Vernunft. Der Mensch, der seiner Ver-
nunft gemäß lebt, erfüllt den Willen Gottes
durch seine Lebensführung — wie auch
Pflanze und Thier, die nach ihren In-
stincten und nach den Trieben ihrer Organe
leben, den Willen Gottes durch ihre
Lebensweise erfüllen.

Man hält mir entgegen, dass dieser
Mensch hier den Willen Gottes zu erfüllen

glaube, indem er seinen Nebenmenschen
die Gurgel abschneidet, jener dort, indem
er Christi Leib in Form von kleinen
Stücken Brotes verzehrt, dieser da, indem
er keinerlei Zweifel hegt, dass er durch
Christi Blut gerettet worden. Diese ver-
schiedenen Arten, Gottes Willen zu inter-
pretieren, bringen arge Verwirrung in den
Geist jener gewissen Leute, die zu glauben
scheinen, dass man sich nicht nach seiner
eigenen Vernunft, sondern nach der Vernunft
der Anderen zu leiten habe. Fürwahr, sehr
wenig bedeutet es: zu wissen, wie beispiels-
weise Dragomirow* den Willen Gottes aus-
legt. Im übrigen, glaubt man etwa ernstlich,
dass Gott den Menschen das Gurgel-
abschneiden anbefehle? Dies lässt sich
wohl nicht mit Sicherheit behaupten. Man
kann etwas sagen und im Grunde an
etwas anderes denken. Worte beweisen
nichts.

Worauf es ankommt, ist: die Deutung,
die wir dem Willen Gottes mit allen
Kräften unserer Vernunft gegeben. Das
heißt: es kommt lediglich auf den Sinn
an, den wir unserem Sein in dieser
Welt ertheilen.

Dieses Sein muss einen Sinn haben,
wie die Bewegungen des Arbeiters, der
in einem Hüttenwerk arbeitet, einen Sinn
haben müssen. Mit allen Kräften unseres
Lebens streben wir danach: uns selbst
von einer niedrigen Zurechtlegung zu
einer höheren Geistigkeit des Lebens
zu erheben! Vom systematischen Gurgel-
abschneiden gelangen wir so zu dem
Aberglauben an die kleinen Stücke Brotes,
vom Aberglauben an die kleinen Stücke
Brotes zum Mythus der Erlösung, vom
Mythus der Erlösung zu der Geistigkeit
einer moralisch und social christlichen
Lehre.

* Commandierender General in der russischen Armee; berühmter Militärschriftsteller
der eine Apologie des Krieges in seinen Schriften versucht hat.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 19, S. 337, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-19_n0337.html)