Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 19, S. 338

Über den Sinn des Lebens Zur Physiologie des Geschmacks (Tolstoi, LeoStrindberg, August)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 19, S. 338

Text

STRINDBERG: ZUR PHYSIOLOGIE DES GESCHMACKS.

Der Sinn des Lebens liegt in dem
Bestreben, Gottes Reich auf Erden zu
begründen; das heißt: in dem Bestreben —
an Stelle der Gewalt, der Grausamkeit und
des Hasses — lediglich Liebe und Brüder-
lichkeit über die Beziehungen der Men-
schen herrschen zu lassen. Das Mittel,
das wir anwenden müssen, um dieses
Endziel zu erreichen, ist: individuelle
Vervollkommnung.* An die Stelle des
Gehorsams, den wir unseren selbstischen
Begierden so bereitwillig entgegenbringen,
werden wir also die Bethätigung liebe-
vollster Ergebenheit gegen unseresgleichen
setzen müssen, nach der Vorschrift des
Evangeliums, die alle Gesetze und Pro-
pheten in diesen einzigen Satz einschließt:
Was du willst, dass man dir thue, das
thue auch du.

Darin liegt für mich der Sinn des
Lebens, und ich kenne in Wahrheit nichts,
das erhabener wäre. Weit entfernt bin
ich, ihn völlig in meinen Handlungen zu
erreichen; aber ich folge ihm oft, komme
ihm näher, gewöhne mich stets inniger
an ihn. Und je öfter ich ihm gehorche,
umso freudiger wird mein Leben, umso
freier wird es, leichter, unabhängiger von
der Außenwelt — und umso mindere
Schrecken birgt mir der Tod.

Jedem ward sein Weg, der ihn zur
Wahrheit führen kann. Ich meinestheils
theile in meinen Schriften, darf ich sagen,
nicht bloße Worte aus, wohl aber jenes
Eigenste, das nun mein ganzes Leben,
mein ganzes Glück ausmacht und noch
im Tode mich begleiten wird.

* Vgl. Tolstoi über Selbstvervollkommnung: »W. R«., IV, 15, S. 262 ff.

ZUR PHYSIOLOGIE DES GESCHMACKS.
Von AUGUST STRINDBERG (Stockholm).

Im XVIII. Jahrhundert wurde ein großer
Poet geboren, der sich zu den Natur-
wissenschaften eignete. Mit »Poet« meine
ich einen Herrn, der Phantasie hat, das
heißt: Vermögen, Ereignisse zu combinieren,
Zusammenhänge zu sehen, zu ordnen und
zu sortieren. So kann z. B. ein Maler in
Sägespänen, die auf Speicherböden ge-
streut sind, Figuren sehen, oder er kann
durch willkürliches Zusammenstellen der
und der Punkte Figuren sehen, wo keine
sind oder wo es bloß Möglichkeiten zu
ihnen gibt. So konnte Linné unter seine
vierundzwanzig Classen alle Pflanzen der
Welt einordnen, und er konnte daheim in
Upsala sitzen und darauf schwören, dass
jede neue Pflanze, wo auch immer sie
gefunden würde, genöthigt wäre, in irgend-
eine von seinen Classen hineinzukriechen.

Das war großartig, und wie er es an-
stellte, diese Classen zu dichten, das
wissen wir nicht, und vielleicht wusste er
es auch nicht, ebensowenig wie der Mathe-
matiker von Natur weiß, wie sein Kopf

Probleme löst, die Gleichungen zweiten
Grades fordern.

Linnés System war indessen nicht
schön und nicht correct. Es ist nicht
schön, nur eine schwedische Pflanze unter
eine Classe zu bekommen, wie es der Fall
wurde mit der siebenten, in die das
Schirmkraut kam, und ich rechne nicht
die Rosskastanie zu den schwedischen.
Doch das System wurde eine Zeitlang
für gut befunden, obgleich ich bekennen
muss, dass, wenn ich es in meiner Jugend
benützte, als Adresskalender, es in vielen
Fällen nicht genügend war, weil es nie-
mals volle Gewissheit gab. Staubfäden
und Stempel waren so oft missrathen, und
wir Jungen wagten niemals eine Pflanze
nach Hartmanns Flora zu bestimmen, wenn
wir sie nicht im voraus kannten oder
den Lehrer fragen konnten, so dass wir
oft jahrelang mit falschen Pflanzennamen
herumgiengen.

Doch Linné konnte, wie gesagt, sehen,
wo andere nichts sahen, und so weis-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 19, S. 338, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-19_n0338.html)