Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 19, S. 339

Zur Physiologie des Geschmacks (Strindberg, August)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 19, S. 339

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STRINDBERG: ZUR PHYSIOLOGIE DES GESCHMACKS.

sagte er einmal einen Zusammenhang
zwischen der Farbe und dem Ge-
schmack der Pflanzen.

Die weiße soll Süße angeben, wie bei
der Johannisbeere, der Pflaume; die rothe:
Säure, wie bei der rothen Johannisbeere,
der Berberitze; die grüne: »Rohhaftigkeit«,
wie Blätter und unreife Früchte; die
blasse ist unschmackhaft (ohne Ge-
schmack): Salat und Spargel (?); die gelbe
bitter, wie bei Schwalbenkraut, Rainfarn,
Aloë, Gentiane, Wermuth und Löwenzahn;
die schwarze unbehaglich und verdächtig,
wie bei Wachholderbeere, Nachtschatten,
Faulbaumbeere; ebenso die dunkelartige
(color luridus) — wo das Kraut zugleich
stinkend ist, ist es giftig und macht die
Leute toll, wie Belladonna, Bilsenkraut,
Stechapfel.

Das sieht ja nicht so unbegreiflich
aus, aber könnte leicht Anlass zu Be-
schuldigungen wegen Mystik geben, die
sehr lebensgefährlich sind in unseren
Tagen, wo alle Dinge für erklärt und
alle Fragen für gelöst angesehen werden.

Um nun herauszukriegen, wie weit eine
heimliche Verbindung zwischen der Farbe
und dem Geschmack eines Gegenstandes
stattfinden kann, müssen wir nachdenken,
was der Geschmackssinn für ein Ding ist.

Die Zunge und die Schleimhaut des
Gaumens sind nicht aus dem Darm-
blatt, sondern aus dem Hautblatt
entwickelt. Die Zunge hat darum nichts
mit den eigentlichen Functionen der Speise-
röhre zu thun, sondern scheint ein
Muskel zu sein, dazu ausersehen, als Stab
zu dienen, mit dem der Stallknecht das
Schrot umrührt und mischt; und daneben
als wichtige Hilfe beim Schlucken. Bei
den Reptilien, die kauen, ist die Zunge
darum ganz weich, aber bei Vögeln und
Fischen, die schlingen, ist sie mit Horn
bekleidet. Wie weit die Zunge der Sitz
für den Geschmack ist, oder ob es über-
haupt Geschmack gibt, ist sehr umstritten.
Feste Körper geben keine Geschmacks-
wahrnehmung, bis sie flüssig werden, und
auch dann nicht immer. Darum kann
man Zucker von Salz nicht unterscheiden,
wenn die beiden Stoffe trocken auf der
Zunge liegen, und auch flüssig können sie
nicht unterschieden werden, bis sie gegen
den Gaumen gedrückt werden.

Geruchs- und Geschmackswahrneh-
mungen werden sehr oft verwechselt, und
was gut riecht, wird oft mit Unrecht für
gutschmeckend angesehen. Vanille zum
Beispiel hat einen bitteren Geschmack,
adstringierend, aber einen schönen Ge-
ruch. Wer Vanille-Eis isst, bekommt
darum niemals Vanillegeschmack, weil
nur die flüssige Tinctur vorhanden ist
und nicht die bitteren Fasern. Darum
schmeckt das Vanille-Eis nicht, wenn man
Schnupfen hat, oder schmeckt, wie wenn
man die Zunge zum Fenster hinaussteckt.
Und der feine Weinprober, der glaubt, die
Beschaffenheit des Weines herausschmecken
zu können, ist theilweise das Opfer eines
Irrthums. Das Bouquet, wie er es nennt,
berührt nur den Geruchssinn, aber der Ge-
halt an Gerbsäure wirkt zusammenziehend
auf die Warzen der Zunge, und die Zunge
thut hierbei nur als ein Gefühlsorgan
Dienst. Unwahrscheinlich ist es nicht, dass
ein Weinprober im Nothfall seine Finger-
spitzen zu so hohem Grad der Empfind-
lichkeit ausbilden könnte, dass er mit
ihnen bitter, salzig und sauer zu unter-
scheiden imstande wäre. Denn wir wissen
ja, dass der Zauberer, der die Finger-
Enden auf Bimsstein schleift und dann
die Unterhaut durch Salpetersäure fort-
fressen lässt, eine so große Empfindlich-
keit erhalten kann, dass er mit den Fingern
fühlt, welche Karte er unter den Händen
hat. Fühlt die Form des farbig Gedruckten!

Doch in der Geschmacksfunction ist
auch ein anderes Moment wichtig, das bei
dem feineren oder gröberen Geschmack
eines Gerichtes entscheidend ist. Das ist
die Consistenz des Gegenstandes!

Eine Gänseleber-Pastete schmeckt nicht
gleich gut, wenn sie grob gehackt ist, wie
wenn sie fein entzweigemahlen ist; die
schmeckt der Zunge nicht. Ein Liqueur,
wenn auch noch so vortrefflich, schmeckt
nicht so gut, wenn er nicht eine hinreichend
dichte Consistenz hat. Daher scheint es,
dass der Geschmackssinn ursprünglich und
noch im wesentlichen ein Gefühlssinn ist.

Wenn wir nun versuchsweise den Satz
aufstellten, dass die Sinne nur Gefühls-
sinne sind, so dass wir mit dem Gefühl
die Dichtigkeit der festen Körper er-
fassen u. s. w., mit dem Geschmack die
Consistenz fester und flüssiger Körper in

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 19, S. 339, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-19_n0339.html)