Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 18, S. 325

Lesen und Bildung* Londoner Vorträge. — Pariser Congresse* (Jellinek, A. L.Th.)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 18, S. 325

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RUNDSCHAU.

Wie die menschliche Entwicklung über-
haupt, so bietet sich ihm auch die Be-
wegung der Literatur in einer Spirallinie
dar. Daher entsprechen sich so viele Punkte,
ähneln sich so viele Abschnitte. Sturm und
Drang, Romantik und Symbolik, Revolution
der Lyrik und Secession des Dramas sind
immer wiederkehrende Erscheinungen und der
Lösung begehrende Probleme. Vor der nüch-
ternen Sachlichkeit historischer Erklärung ver-
klingt das Wortgebimmel und Schellengeläute
»moderner« und »europäischer« Kritiker, die
im Literatur-Circus unserer Tage den Manager
spielen.

Seiner Schrift hat Schönbach nach
englischem und amerikanischem Muster Bücher-
listen beigefügt, die im Laufe der Jahre als
Verzeichnis alles Lesenswerten zu fast dog-
matischer Berühmtheit gelangt sind. Sie sind
durch stete Ergänzungen allmählich vielleicht

zu umfangreich geworden. Beschränkung that
eher noth als weitere Vermehrung.

Nicht nur was, auch wie man lesen soll,
sagt uns dieser alte kritische Leser. Er lobt
und lehrt die Kunst des Lesens, ohne sich
wohl der Weisheit Schopenhauers zu ver-
schließen: »Die Leute, die ihr Leben mit,
Lesen zugebracht und ihre Weisheit aus
Büchern geschöpft haben, gleichen Denen die
aus vielen Reisebeschreibungen sich genaue
Kunde von einem Lande erworben haben.
Diese können über vieles Auskunft ertheilen,
aber im Grunde haben sie doch keine Kennt-
nis von der Beschaffenheit des Landes. Hin-
gegen Die, welche ihr Leben mit Denken zu-
gebracht haben, gleichen Solchen, die selbst in
jenem Lande gewesen sind: sie allein wissen
eigentlich, wovon die Rede ist, kennen die
Dinge dort im Zusammenhang und sind wahr-
haft darin zu Hause.« J.

RUNDSCHAU.

LONDONER VORTRÄGE. — Annie
Besant
hielt am 31. August in der Battersee
Town Hall
in London vor einem zahlreichen
Auditorium einen Vortrag über »Theosophy
and Current Events. England and the East
«
(Theosophie und actuelle Ereignisse. England
und der Osten). Sie wies zunächst darauf hin,
dass manche der Ansicht wären, die Theosophie
könne als metaphysisches System mit poli-
tischen Ereignissen nicht in Verbindung ge-
bracht werden. Dieser Meinung müsse man,
so erklärte sie, entgegentreten. Die Theo-
sophie beleuchte im Gegentheil auch die Tages-
fragen, da ihre beiden Fundamental-Lehren,
die Evolution der Menschenrassen und die
Reïncarnation, zum Verständnisse vieler Pro-
bleme von internationaler Tragweite verhelfen.

Bezüglich der Ereignisse in China besprach
Mrs. Besant zunächst Berichte aus dem Innern
des Reiches, aus denen hervorgeht, dass das
Volk daselbst friedlich in Dörfern lebt, wo
Armut und Laster nicht existieren, und in
edler Weise Gastfreundschaft übt, während an
der Küste, wo die Bevölkerung mit der west-
lichen »Civilisation« in Berührung gekommen
ist, Grausamkeit, Brutalität und Lügenhaftigkeit
unter derselben vorherrschen und jeder Fremde
als Feind betrachtet wird. Das sei durch die
Anmaßung der westlichen »Culturvölker« ver-
anlasst worden, die China nur für ihren Vor-
theil gebrauchen und die Anschauungen des
Westens der Bevölkerung aufzwingen, wenn
sie sich nicht gutwillig fügt. »Wir haben das
göttliche Recht der Könige aufgegeben, aber
das göttliche Recht des Kaufmanns über
die ganze Welt aufgestellt.« (Bewegung.)

In Amerika, so führte Frau Besant des
weiteren aus, leben gegenwärtig die Chinesen

unter so drückenden Gesetzen, dass, wenn
man versuchen wollte, auch nur den kleinsten
Theil derselben den Fremden in China auf-
zubürden, sofort der ganze Westen in Waffen
gegen das himmlische Reich sich erheben
würde. Amerika habe versucht, die Chinesen
auszuschließen, aber es habe seine Streitmächte
in China, um sofort den Willen des Westens
dem Reiche aufzwingen zu können. In Australien
seien dieselben drückenden Gesetze gegen die
Chinesen in Kraft. »Australien für die Austra-
lier«, »Amerika für die Amerikaner« seien
populäre Rufe, aber als der Ruf »China den
Chinesen« erscholl, habe man bei uns von
Barbarei gesprochen! (Gelächter.) Man sollte
doch unparteiisch und gerecht urtheilen. Wenn
es recht wäre, den Weg durch China mit
den Waffen zu erzwingen, warum sollte nicht
auch China seinen Weg durch Amerika und
Australien mit Gewalt erzwingen. Wenn sich
einmal die Idee im Kopfe der Chinesen fest-
gesetzt haben werde, dass es recht sei, seinen
Weg durch ein fremdes Land zu erzwingen,
dann würden die ungezählten Millionen Chinas
eine wirklich schwer zu lösende Frage schaffen,
und das Resultat des Versuches, ihnen die west-
liche »Civilisation« aufzuzwingen, könnte die In-
vasion des Westens durch die große Bevölke-
rung des Ostens sein. Die Ereignisse in Peking
hätten die chinesische Cultur ebenso verletzt,
wie die christliche Religion.

PARISER CONGRESSE. — Der inter-
nationale Congress für Psychologie
war von zahlreichen Gelehrten der verschie-
densten Richtung, die aus irgendeinem Grunde
der modernen psychischen Forschung Inter-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 18, S. 325, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-18_n0325.html)