Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 18, S. 321

Dharma und Karma Die blaue Blume* (Arjuna van Jostenoode, HaraldCeconi-Huch, Ricarda)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 18, S. 321

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CECONI-HUCH: DIE BLAUE BLUME.

einsetzt, um zuletzt zur gänzlichen Ent-
sagung zu gelangen, der vollständigen
»Verneinung des Willens«, wie Schopen-
hauer sagen würde.

Aber Unrecht wäre es, die verschie-
denen Stufen nicht zu berücksichtigen.
Jeder Mensch muss wissen, wie sein Dharma
ist. Das ist, was der fromme Katholik
die »Berufsgnade« nennt. Wer als Weib
geboren ist, soll als Weib erzogen werden
und die weiblichen Tugenden erlernen. Dies
ist sein Lebensberuf. Daher ist es thöricht,
den Unterschied zwischen den beiden
Geschlechtern völlig verwischen zu wollen,
wie es die moderne Erziehung anstrebt,
die nur Zwitter großzieht. Das Dharma
des Weibes verlangt etwas anderes, als
das Dharma des Mannes.

Ähnlich steht es mit der Mischung
der Stände, wie sie heute so beliebt ist.
Die Inder würden diese als das größte
Unglück, als das Zeichen des »Kali-Zeit-
alters« ansehen. Der ganze Anarchismus
ist die natürliche Consequenz. Die An-

archisten sind die eigentlichen déclassés,
die Kastenlosen.

Wer sein Dharma erkennt, der wird
nach der Gemeinschaft streben, zu der er
gehört. Es gibt geborene Aristokraten
(einen Adeligen kann man ja nicht creieren!)
und geborene Plebejer. Kein Decret der
Welt kann die Natur umändern. Daher
soll man auch im allgemeinen mit der
Lage zufrieden sein, in der man geboren
ist. Wer die große Lehre vom Karma be-
greift, der klagt nicht über sein Schicksal.
Er ist auch nicht so naiv: zu glauben,
dass, wie das oberflächlich-optimistische
Sprichwort sagt, Jeder seines Glückes
Schmied auf dieser Erde ist. Nichts ist
falscher. Die Welt wird von Mächten ge-
leitet, die hinter der Scene sind und Jedem
das zutheilen, was ihm nach seinem Karma
zukommt. Uns bleibt es überlassen, einen
vernünftigen Gebrauch von dem bischen
Freiheit zu machen, das uns beschieden
ist. Wir hängen ab von unserem Karma
und wir schreiten fort in dem Maße, als
wir unser Dharma zu gebrauchen wissen.

BÜCHER. DIE BLAUE BLUME.
Von RICARDA CECONI-HUCH (München).

Die Herausgeber der Blauen Blume*
haben die Sammlung veranstaltet, weil die
Kenntnis der romantischen Dichtung im
Publicum gering ist, und weil sie glauben,
dass die Wesenheit der Romantiker sich
am charakteristischesten in der Lyrik geoffen-
bart habe. Gegen das letztere ist manches
einzuwenden. Namentlich die älteren Roman-
tiker lernt man aus ihren Gedichten nicht
von der günstigsten Seite kennen, obwohl
sicherlich die Lyrik ihr eigentlicher Beruf
war; aber Lyrik ist nicht nur auf Gedicht-
form angewiesen. In Übereinstimmung damit,
dass die Romantik Vereinigung von Wissen-
schaft und Poesie anstrebte und auch in
einer Art wissenschaftlicher Poesie, nämlich
in der Kritik, im Essay, im psychologischen
Roman, das Höchste leistete, schuf sie in Hin-
sicht auf Sprache eine poetische Prosa, die
nicht selten durch und durch von Lyrik ge-
tränkt ist. Man könnte denken, sie hätte in

entsprechender Weise eine Prosa-Poesie ge-
schaffen, wie ja auch Goethe, aus dem sie
großenteils schöpfte, Muster von freien
Rhythmen gebildet hat. Bettine Brentano
sagte einmal geradezu, dass ihrer Meinung
nach die gebundene Sprache der Poesie das
innerste, feinste, verborgenste Empfinden, das
aus der Seele heraus wolle, unterbinde, und
sträubte sich infolgedessen gegen ein Aus-
sprechen in Versform. Das in der Anthologie
angeführte Beispiel beweist, wie wohl sie daran
that, und wie eine feurige, eigenthümliche Per-
sönlichkeit, die sich in Prosa höchst kräftig
zur Geltung bringt, im Gedicht flach und reiz-
los wirken kann. Aber von einzelnen Fällen,
zum Beispiel Gedichten des Novalis abge-
sehen, blieben die Romantiker im ganzen der
alten Dichtweise treu, worüber Einen nicht
täuschen darf, dass A. W. Schlegel aus den
verschiedensten Literaturen neue Formen
herüberholte und in Mode brachte; denn durch

* Eine Anthologie romantischer Lyrik von Friedrich v. Oppeln-Bronikowski und Ludwig Jacobowski.
— Verlag Eugen Diederichs. Florenz und Leipzig, 1900.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 18, S. 321, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-18_n0321.html)