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Anderen schlecht. Im einzelnen Falle muss
Jeder nach seiner Lage, nach seinem
Gewissen, nach seinem Verständnis handeln.
Die Moral kann nur für einen vernünf-
tigen Menschen autonom sein, eine hete-
ronome Moral ist nur eine Pseudo-Moral.
Das schließt natürlich nicht aus, dass
Menschen auf niederer Culturstufe, so gut
wie kleine Kinder, sich am besten nach
Menschen richten, die geistig über ihnen
stehen und ihnen einfach sagen können,
was sie thun sollen. Aber eine solche
Stufe noch länger aufrecht erhalten wollen
bei Fortgeschrittenen, wäre eine Sünde
gegen den heiligen Geist.
Ein Jeder muss sich nach seinem
eigenen Dharma richten. Was bedeutet
nun »Dharma«? Man könnte es etwa so
definieren: Dharma bezeichnet die innere
Natur, die durch den Grad der Entwick-
lung bei jedem Individuum bestimmt ist,
plus dem Gesetz des Wachsthums für
den nächsten Grad der Entwicklung. Also
es sind zwei Dinge zu unterscheiden, zu-
nächst der standard
der Evolution.
Man kann von einem Congoneger nicht
verlangen, was man von einem Weißen
erwarten kann, und ein Mann des Mittel-
alters darf nicht mit unserem Maßstabe
gemessen werden.
Dann aber muss man berücksichtigen,
dass jeder Mensch Fortschritte machen
soll; er darf nie auf der Stufe der Ent-
wicklung stehen bleiben, auf der er gerade
steht. Da aber die Evolution nur stufen-
weise erfolgen kann, so leuchtet ein, dass
die Wahl der Mittel zur Ausbildung eine
sehr beschränkte ist. Man muss also die
Gesetze des geistigen Wachsthums
kennen. Dies ist das einzige Mittel. Kein
abstractes Raisonnement, kein Einpauken
des Katechismus kann die geistige Thätig-
keit ersetzen, welche zur Wahrheit führt,
die uns frei macht. Der Fortschritt muss
innerlich gefühlt und erlebt sein. »Wenn
ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht er-
jagen!«
Ich will dies an einigen Beispielen
klarzumachen suchen. Man pflegt heute
einen wahren Abscheu gegen die Barbarei
der Sclaverei an den Tag zu legen. Aber
die Einführung der Sclaverei bedeutete
für die damalige Zeit einen Fortschritt.
Bis dahin hatte man die Feinde einfach
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getödtet und womöglich aufgefressen. Von
da an suchte man sie möglichst zu ver-
werten. Ist es also nicht eine Thorheit,
gegen die Sclaverei im allgemeinen zu
declamieren?
Anderes Beispiel: Man pflegt heute
in unserem civilisierten Europa gegen die
Roheit des Kriegs zu donnern. Aber die
Kriege waren nothwendig, um männliche
Tugenden zu entwickeln. In der langen
Entwicklung der Menschheit — ebenso
wie bei jedem einzelnen Individuum —
musste es eine Periode geben, wo Kampf-
lust, Tapferkeit, Aufopferungsfähigkeit und
ähnliche männliche Eigenschaften groß-
gezogen wurden. Hätte man einem Achilles
oder Hektor Milde gepredigt, wäre der
Menschheit viel verloren gegangen. Denn
die Ausbildung aller Eigenschaften, welche
den Fortschritt herbeiführen, allein kann
vor Einseitigkeit bewahren. Diese Helden
des Mittelalters (im weitesten Sinne des
Wortes) mussten so roh und brutal sein,
wie sie uns jetzt vorkommen. Ein sanfteres
Ideal war erst einer späteren Zeit vor-
behalten.
Daher thaten die Inder wohl daran,
Kasten einzuführen, die jedem Individuum
erlaubten, sich nach seinem Dharma zu
entwickeln. Der Vaishya lebte seinem
Stande gemäß, wenn er ein ehrlicher
Philister war; man verlangte von ihm
keinen hohen Idealismus. Der Kshattriya
dagegen musste sein Leben ohne weiteres
in die Schanze schlagen, wenn es galt;
er war der Gentleman in Indien. Der
Brahmane schließlich durfte nur dem Ideale
leben, ohne jede egoistische Regung; er
war der geborene Philosoph.
Hätte ein Vaishya zum Beispiel nicht
auf seinen Vortheil gesehen und energisch
seine materiellen Rechte wahrgenommen,
so hätte er nicht die nöthige Energie be-
kommen, um später als Kshattriya wieder-
geboren zu werden. Die großen Rishis,
welche diese Kasten gründeten, wussten
wohl, warum sie es thaten. Eine schwache
Seele kann nie zur Vollkommenheit ge-
langen. Daher muss der Starkmuth natur-
gemäß von der Erwerbung materieller
Dinge, also dem Egoismus, ausgehen, dann
sich auf immaterielle Dinge werfen, wie
er sich beim Krieger zeigt, der als echter
»Ritter« sein Leben für ideale Werte
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