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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 18, S. 317

Text

FLANDRISCHE LIEDER.
Von CAMILLE LEMONNIER (Brüssel). DAS LIED VOM HOLZSCHUH.

Der Fluss zwischen unsern beiden Bauernhöfen ist wie ein Band an Rietjes
Sonntagsmieder. Einen duftenden Strauß hab ich in einen Holzschuh gesteckt und
den Holzschuh aufs Wasser gesetzt. Dann hab ich geblasen:

Schwimm, du leichtes Schifflein, der Fluss wird dich dorthin tragen, wo sich
eine Hand durchs Schilf streckt.

Meine Liebe, Rietje, ist wie ein großes Schiff, schwer mit Geschenken beladen;
es gleitet auf meinen Gedanken hinab — hinüber, wo Du bist Nun seh ich den
kleinen Holzschuh nicht mehr; hinter dem Schilf ist er verschwunden. Der Fluss
schlängelt sich, wie das Strumpfband um Dein Knie. Nun wart ich voller Unruh, bis
der Holzschuh wieder auftaucht.

Eine große Wolke hat sich zwischen uns gelegt und trennt uns, wie ein böser
Gedanke; als sollten unsere Herzen geschieden bleiben Was macht meine Rietje
zu dieser Stunde? Ihre Gedanken haben sich entfernt; mit ihren Blicken irren sie
über die staubige Landstraße, auf der ein Wägelchen rollt Ich werde die Blumen
mit meinen Füßen zertreten; ich werde den Holzschuh an einem Stein zerschellen.

Doch, da kommt er endlich wieder zwischen dem Schilf hervor, beginnt auf
dem Wasser weiterzugleiten; also hat Rietje nicht aufgehört, bei mir zu sein

In die Au will ich gehn, mir dort ein Rohr schneiden; dem mache ich Löcher
und ein Mundstück — einer Flöte wird es gleichen. Heut Abend aber will ich
zärtlich unter Deinem Fenster blasen.

DAS LIED VOM TODTEN KINDE.

Ein Vöglein hat sein Nest im Moos des Daches gebaut — da war mein kleines
Kind noch nicht drei Jahr alt; wie dann der Winter über die Ebene kam — da
trug der Vogel die Seele meines Kindes unter seinem Flügel davon.

Der Vogel ist nicht wieder gekommen, ich blieb allein und verwaist. Dann
fiengen die Apfelbäume zu blühen an; die Blüten im Obstgarten waren so rosig, wie
seine kleinen Füße, wenn es vor der Thür umherlief.

Ich führte die Blüten an meinen Mund, ich glaubte das kalte Körperchen zu
küssen, das ich nicht erwärmen konnte. Nun geht sein Schatten ewig vor mir her
im Sonnenschein

Flieg fort, du grässlicher Vogel! Flieg an den Ort, dahin du die Seele meines
Kindes getragen. In diesem Haus gibt’s keinen Platz mehr für ein Nest

Deutsch von M. v. BERTHOF. Vgl. »W. R.«, IV, 7.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 18, S. 317, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-18_n0317.html)