Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 18, S. 316

Zur Psychologie und Überwindung des Bohémiens III. (Mauclair, Camille)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 18, S. 316

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MAUCLAIR: ZUR PSYCHOLOGIE UND ÜBERWINDUNG DES BOHÉMIENS.

wir haben glänzende Beispiele dafür. Und
sie wird helfen, den neuen Typus zu
bilden. Denn immer mehr schwindet mit
dem Romantismus auch jene Auffassung,
die den eitlen Prunk und das Pathos
der Bohémiens rechtfertigte, die Auf-
fassung, dass Literatur und Kunst eine
glänzende, ehrenbringende, amüsante Lauf-
bahn bieten, während es sich doch in
Wahrheit um schwere, ernste, oft zur
Armut zwingende Missionen voller Ent-
täuschungen handelt, die keineswegs dazu
angethan sind, zur Schlemmerei und Auf-
schneiderei zu ermuntern. Wenn aber
die Würde der Kunst auch heute noch
gewisse tüchtige und gute Künstler ver-
leitet, unter ihrem Rittermantel den Degen-
knopf eines eingebildeten Dolches zu
suchen oder unter einem Hut à la Lud-
wig XIII. einen allzu üppigen Haarwuchs
zu kräuseln, so zeugt das jedenfalls von
moralischer Uneleganz und von Mangel
an Unabhängigkeitssinn, da sie doch ganz
im Gegentheil beruflich die Pflicht hätten,
ihre Gefühle von allem Äußerlichen, All-
täglichen zu befreien.

Schaunard und Rodolphe liegen im
Todeskampf — gleichsam als Repräsen-
tanten des Chauvinismus und der Sentimen-
talität dieses Jahrhunderts; denn die strenge
und heilsame Zeit, in der wir leben, unter-
zieht mit kalter Entschlossenheit alle
Metaphern und Begriffe, die von der
großen Masse übernommen wurden, einer
ernsten Prüfung. Man kann jetzt so un-
heilvollen Schöpfungen, wie es Murgers
Vie de Bohème“ ist, getrost den Gnaden-
stoß versetzen. Bevor man aber daran
geht, die Bibliothek jener zahllosen Bücher,
die vom modernen Künstler handeln, um
neue und lediglich phantastische Bände
zu bereichern, sollte ein Buch von höchster
Nothwendigkeit über die sociale Organi-
sation der Kunstschöpfer geschrieben
werden. Die Aphorismen über die Lebens-
weisheit des modernen Künstlers
warten auf ihren Schopenhauer. Der Mann,
der — auf die Erfahrungen des Lebens
gestützt und von einem mächtigen Mit-
gefühl für die Wesen geleitet, die ihre
prächtigen Fähigkeiten schutzlos den Ge-

fahren des Lebens preisgeben — ein
solches Gesetzbuch über ihre moralische
und materielle Organisation schreiben
würde, könnte eines der erhabensten
Wohlthätigkeitswerke aller Jahrhunderte
verwirklichen. Jetzt sind wir erst an der
Schwelle. Wir stammeln die Vorrede
dieses erwarteten Buches. Es wird ein-
für allemal das Urtheil sprechen über
die Eitelkeit des romantischen Hochmuths,
über das kindliche, aber gefährliche Spiel
mit einer rein äußerlichen Verehrung des
Ich. Es wird dem intellectuellen Schöpfer
die ihm zukommende Stellung in der Ge-
sellschaft verschaffen. Es wird weder einen
Beamten, noch einen Geistlichen oder
irgendetwas Berufsmäßiges aus ihm machen,
es wird ihm seinen Ausnahms-Charakter
nicht rauben. Es wird ihn einzig zu
einem Menschen machen, der in Gleich-
giltigkeit gegen den Ort, die Sprache
und die Menge dahingeht als Träger einer
reineren Seele, eines schöneren Charakters,
einer erhabeneren Beredsamkeit und
Nächstenliebe — zu einem Menschen, der
das Geheimnis der Gesetze und der
psychologischen Methoden, die Triebkräfte
des menschlichen Herzens, die Analogien,
die allgemeinen Gedanken über die Ge-
sellschaft sein Eigen nennt — — zu einem
Menschen, der inmitten der Arbeiter eines
vergänglichen Bereichs über die ewigen
Wahrheiten nachsinnt und sie, ungeachtet
der Schwankungen ihrer Form, näher zu
bestimmen sucht.

Mit dem Untergang der falschen Gefühls-
literatur, der Genremalerei und der
schmachtenden Musik, mit der Rückkehr
unserer Geisteskraft zu jener Species
»unverschämter Arbeiten« (ein Wort Stend-
hals), die den Leser zum Denken zwingen
wollen, statt einfach nur seine Nerven
zu erregen, mit der Anerkennung der
inneren Überlegenheit des Künstlers in
einer Epoche, da die äußeren Rangord-
nungen zu schwinden beginnen, wird also
das Zerrbild des alten Bohémiens, das
den wahren Adel des Künstlers be-
leidigt, endgiltig in das Reich der
Schatten sinken müssen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 18, S. 316, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-18_n0316.html)