Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 18, S. 319

Dharma und Karma (Arjuna van Jostenoode, Harald)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 18, S. 319

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ARJUNA VAN JOSTENOODE: DHARMA UND KARMA.

schehen ist. So gut eine Feuersbrunst
entsteht, wenn ich aus Leichtsinn ein
Schwefelholz in einen leicht brennenden
Gegenstand werfe, so gut entsteht geistiges
Unheil, wenn ich auf moralischem Gebiete
fehle.

Da aber Jeder Karma erzeugt, so wird
die Sache sehr compliciert. Das Karma
meines Nebenmenschen kreuzt sich mit
meinem eigenen, und das Karma der
Nation verbindet sich ebenfalls mit meinem
eigenen. Dass es jetzt auf einmal Krieg
gibt, ist nicht meine Schuld; das ist das
Karma des Volkes; dass ich aber in diesem
Kriege todtgeschossen werde, ist mein
eigenes Karma. Es ist Karma, wenn man
eines unnatürlichen Todes stirbt. Keine
Macht der Erde kann Einen davor schützen.
Alles ist Karma. Denn jede, auch die
kleinste Handlung wirkt nach bestimmten
Gesetzen weiter, wie der Schneeball ins
Rollen kommt und allmählich zur Lawine
anschwillt. Daher kommt es, dass es
manchen Menschen so gut geht im Leben
und manchen so schlecht. Nicht die Laune
eines außerweltlichen Gottes, sondern
das strenge Gesetz der Notwendigkeit
führt dies herbei. Da nun in diesem
Leben offenbar nicht nach Gerechtigkeit
verfahren wird, so muss man nothge-
drungen annehmen, dass wir früher schon
einmal gelebt haben: also die alte Lehre
der Reïncarnation.

Ich werde in die Verhältnisse hinein-
geboren, die ich verdient habe. Nicht der
Zufall herrscht, nicht die Laune eines
persönlichen Gottes. Der Mensch schafft
sich selber nach seinen Wünschen, Ge-
danken und Begierden.

Nehmen wir an, ein Mensch habe
beständig Gedanken des Blutdurstes ge-
nährt, so wird er in einem späteren Leben
mit der Anlage zum Mörder wiedergeboren.
Auf solche Weise erklärt sich, dass es
geborene Verbrecher gibt. Die Behaup-
tung, die Lombroso aufstellt von dem
uomo delinquente, ist ganz richtig, nur in
etwas anderer Weise, als er meint. Nicht
weil jemand ein abnormes Gehirn hat,
ist er ein Verbrecher, sondern weil er
verbrecherische Gedanken und Gelüste
hat, bekommt er ein anormales Gehirn.

Auf diese Weise löst sich auch die
alte Frage nach der Freiheit des Willens.

Der geborene Mörder hat zunächst so
gut wie gar keine Willensfreiheit; er folgt
einfach seinem schlechten Triebe, wie ein
wildes Thier. Aber er kann durch sein
Leiden allmählich auf andere Ansichten
kommen und vollständig geheilt werden,
wie das Beispiel vieler Verbrecher be-
weist, die reumüthig auf dem Schaffot
gestorben sind.

Das größte Leid, das einen Menschen
meiner Ansicht nach treffen kann, ist: zu
wissen, dass man schlecht ist, und doch
nicht zu wissen, wie man besser werden
kann. Alles andere Unglück ist hiergegen
nur Kinderspiel. Mag das Karma so schlecht
sein, wie es will, mag man vom Geschick
so grausam verfolgt werden, wie nur
möglich, man braucht sich nicht wahr-
haft unglücklich zu fühlen. Aber zu wissen,
dass man z. B. eine angeborene schlechte
Neigung hat, gleichgiltig, welche man an-
nimmt, der man instinctiv folgen möchte
(nach dem »Gesetz der Glieder«, von
dem der Apostel Paulus spricht) — und
doch nicht widerstehen können: das ist
augenscheinlich die Hölle auf Erden. Da
begreift es sich, dass ein so großer Mann
wie Martin Luther sagen konnte, es
gebe keinen freien Willen, manchmal
würde man einfach vom Teufel geritten,
oder dass Calvin auf die fürchterliche
Lehre von der Prädestination kommen
konnte, die schon der große heilige
Augustin gekannt hatte.

Es gibt allerdings Menschen, in denen
der freie Wille in manchen Punkten
geschwächt, ja beseitigt ist. Der freie
Wille ist etwas ganz Relatives. Nur durch
eine langsame Entwicklung während vieler
Leben ist ein Aufgang möglich, wenn
man nicht glauben will, dass Gott einfach
auswählt, wer ihm passt, und die Andern
auf ewig in die Hölle schickt.

Die Inder haben durch die Lehre vom
Dharma zur Aufhellung solcher wich-
tigen Fragen wesentlich beigetragen. Sie
steht in schneidendem Gegensatz zu der
engen Auffassung eines »Gesetzes«, das
ganz äußerlich eingehalten werden muss,
wenn man sich bei Gott beliebt machen
will. Schon Christus hat dies Gesetz
abgeschafft und damit erklärt, dass in
der Moral alles relativ ist. Was für den
Einen gut sein kann, ist vielleicht für den

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 18, S. 319, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-18_n0319.html)