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Um das »Recht auf Literaturkritik« ist heißer
Kampf entbrannt. Viele beanspruchen dieses
Recht, Wenigen steht es zu. Die Literatur-
geschichte ist heute der Tummelplatz des
wüsten Dilettantismus, wie auch der ertrag-
reiche Acker einer gewissenhaften Forschung.
Die Philosophie dünkt sich hier ebenso Allein-
herrscherin wie die Ästhetik, die von der
Kunstgeschichte kommt und die dort erlernten
Mittel und Handgriffe flugs auf die literarische
Wertung überträgt. Und in jüngster Zeit haben
hier auch Mediciner verschiedener Richtung,
Pathologen und Biologen, eine üppige Weide
gefunden. Alle diese Betrachtungsarten eines
Dichterwerkes stehen in schroffem Gegensatz
zu einander, so ziemlich alle aber stehen ein-
müthig gegen die »philologische« Methode.
Banausenthum und die Auswüchse, die hier wie
anderwärts ja unvermeidlich sind, die aber nie-
mand schärfer gegeißelt hat, als Philologen
selbst, haben die philologische Literatur-
geschichte in Verruf gebracht. Wohin aber eine
Literaturkritik geräth, die vom sicheren Wege
des Thatsächlichen abirrt und sich in das
nebulose Reich der Combination verliert, dafür
haben die letzten Jahre manch trauriges Bei-
spiel geboten. Der »Notizenkram« unserer Phi-
lologen wird mit Recht geschmäht, wenn er
Selbstzweck ist, mit Unrecht, wenn er nur eine
Vorarbeit, ein Steinchen am großen Bau sein
will. Nur wer sich in Kenntnis und trotz Kennt-
nis des Details den Blick für das Ganze be-
wahrt, wer nicht an einem Dichter, und sei
es auch ein Goethe, nicht an einem Volke
haften bleibt, wer von der Warte der Welt-
literatur aus sein Urtheil fällt, scheint der
rechte und richtige Literaturhistoriker und
Literaturkritiker. Nicht Der darf über die
Lyrik von heute urtheilen, der ein paar Gedicht-
bände der letzten Jahre kennt und über der
Moderne von heute die Moderne von gestern
vergisst, sondern Der allein scheint sich das
»Recht auf Kritik« ehrlich erstritten zu haben,
der die Lyrik verfolgt und erforscht hat von
Horaz bis Storm, von Pindar bis Liliencron,
der den Wandel und Wechsel in Rhythmus
und Form und dabei doch die Gleichheit in
Stimmung und Ausdruck erkannt hat.
Das Ewig-Menschliche, befreit vom Flitter-
gold der Mode, durch die Jahrhunderte aufzu-
spüren, jene uralten, ewig wiederkehrenden
Motive und Stoffe auf ihren Wanderungen durch
die Literatur aller Völker und Zeiten zu be-
lauschen, von indischen Märchen und Fabeln,
über hebräische Legenden, Novellen des
Boccaccio, Komödien Shakespeares und
seiner Genossen bis zum Lustspiel unserer
Tage die Wechselwirkungen zwischen Dichtern
und Völkern aufzuzeigen, immer dabei den
Blick gerichtet vom Einzelnen aufs Ganze,
vom Ganzen aufs Einzelne, das ist das
Ziel der modernen, der vergleichenden
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Literaturgeschichte. Dabei macht sie sich
alle anderen obgenannten Betrachtungsweisen
dienstbar. Sie fasst — ich darf hier wohl den
Worten eines Vorkämpfers solcher Anschauung,
Alfred Bieses, folgen — die Literatur-
geschichte eines Volkes nur als einen Theil
seiner gesammten Geistesgeschichte, den
einzelnen schaffenden Geist nur als Sohn seiner
Zeit und zugleich als eine sich entwickelnde
individuelle Persönlichkeit auf; sie gründet sich
auf Völkerpsychologie; sie ist ein Theil der
vergleichenden Poetik; sie muss das Werden
der sprachlichen und metrischen Formen und
ihre Verkettung mit dem Gedanken- und Ge-
fühlsgehalt schildern; sie muss die Einzel-
erscheinung unter den Gesichtspunkt des All-
gemeinen rücken, sei diese nun eine linguisti-
sche oder ästhetische; sie muss den Mikrokos-
mos der einzelnen Individualität nur als ein
Glied des Makrokosmos, d. h. jener unendlichen
Kette, welche Vergangenheit und Gegenwart
verbindet, und zugleich als Spiegelbild seiner
Zeit verstehen. Grundlegend ist immer die
philologisch-historische Forschung. Sie bietet
erst einer psychologisch- ästhetischen Be-
trachtung ein Material, ohne welches diese auf
thönernen Füßen stünde.
Auf solcher Grundlage ist das Buch des
Grazer Germanisten Anton E. Schönbach
erwachsen, das man nicht mit Unrecht als die
beste Übersicht der neueren deutschen Literatur
von Goethes bis zu Kellers Tode bezeichnet
hat. Anspruchslos wie der Titel: Ȇber Lesen
und Bildung, Umschau und Rathschläge«*
ist auch das Buch und sein Autor. Ein welt-
ferner, aber kein weltfremder Gelehrter, der
unsere Kenntnis der deutsch-mittelalterlichen
Lyrik und Epik, Predigt und Novelle wesent-
lich bereichert hat, geht er weder auf Ȇber-
winden« noch auf »Entdecken« aus. Verstehen
und gerecht urtheilen ist das Ziel seiner Kritik.
Und ihre Mittel sind dieselben, müssen die-
selben sein, ob sie nun den alten oder den
neuen und neuesten Werken gelten: »Fest-
stellen, welches Ziel der Dichter — um diesen
handelt es sich zuvörderst — angestrebt und
durch welche Mittel er es zu erreichen gesucht
hat. Ferner zu bemessen, ob diese Aufgabe
richtig gestellt und die Mittel entsprechend
gewählt waren. Endlich die Vorbedingungen des
neuen Werkes klarlegen und dieses dem Be-
stände der modernen Literatur am rechten Platze
einreihen.« So mustert und schildert er mit
der tiefgründlichen Kenntnis des Philologen,
mit der Liebe und Sorgfalt des eifrigen Lesers
»die neue deutsche Dichtung«, »Realismus«
und »die jüngsten Richtungen«, folgt den Spuren
Zolas und Ibsens, und lange vor den jugend-
lichen Heißspornen, die sich der Entdeckung
Emersons und Thoreaus rühmen, hat dieser
alte Professor die Bedeutung des Bostoner
Philosophen erkannt und gründlich gewürdigt!
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