Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 18, S. 323

Die blaue Blume* (Ceconi-Huch, Ricarda)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 18, S. 323

Text

CECONI-HUCH: DIE BLAUE BLUME.

spürt schon daraus, dass man die Gedichte
mehreremale lesen muss, um sich ihrer zu
bemächtigen, dass man etwas Neues, allerdings
auch, dass man keinen geborenen Dichter vor
sich hat. Eine eigenartige Ideenwelt will sich
aussprechen, es will etwas ans Licht, was
tiefer im Innern sitzt, als das, was man ge-
wöhnlich äußert. Das geschieht in unge-
schickter Weise, und höchstens einzelne Verse,
kein ganzes Gedicht, wird der Leser rein
genießen können. Ebenso ist es mit Tiecks
Gedichten, wenn sie auch denen Schlegels
entgegengesetzt sind, nämlich dürftig und
spärlich, während jene dickgliedrig und schwer-
fällig sind. Die schönen, geheimnisvoll-feier-
lichen Verse:

Keiner, der nicht schon zum Weihefest gelassen,
Kann den Sinn der dunkeln Kunst erfassen

und die stimmungsvollen:

Ach, wer seid ihr fremden Wesen,
Die mit Grimm mein Herz zerschneiden?

stehen zwischen vielen hölzernen und leeren.
Dies bezieht sich hauptsächlich auf die Sonette,
die klapprig und unmusikalisch sind, was um-
somehr auffällt, als Tiecks Verse oft nur all-
zuleicht fließen, umsomehr freilich, je all-
täglicher der Inhalt ist.

Nur Novalis, dem die Kraft rhythmischer
Sprache angeboren war, versinnbildlichte die
Fülle der romantischen Ideen und Empfindungen
in ergreifend schöner Form und wird wohl
der Einzige bleiben, der den Poesiefreunden
zusagt; allerdings ist er ohnehin der bekannteste.

Von nun an strömt die Quelle romantischer
Lyrik reicher und verständlicher. In vielen
Gedichten von Brentano, Eichendorff,
Justinus Kerner ist die blaue Blume aufge-
blüht mit dem Schmelz des Wunderbaren und
dem Duft der Geheimnisse. Die Herausgeber
bieten uns aber nicht nur Bekanntes, das wir
gerne wieder und wieder lesen, sie lassen uns
auch unter ihrer Führung schöne, verborgene
Blüten entdecken.

O Menschenleben! Einer Wolke Zug
Und eines Sommervogels kurzer Flug!
Ein Harfenklang, ein traurig-schönes Lied,
Das allzuschnell in dunkle Nacht entflieht!

Das weckt wie Musik einen Strom banger,
dunkler Gefühle in uns, weit mehr, als die
klingenden, ausgetüftelten Verse A. W. Schlegels
und Tiecks, die das erreichen sollten.

Die ganze mittelalterliche Landschaft, in
Trümmer zerfallen und vom Monde be-
schienen, ersteht allmählich vor dem Leser;
der Rhein mit seinen Burgen, der Kölner
Dom, alte Städte am Meere, Könige,
Sänger, Hirten, versunkene Kronen und zer-

brochene Harfen. Wir wissen den Herausgebern
Dank dafür, besonders, da sie uns an andern
Gedichten beweisen, dass man auch ohne
diese Zuthaten romantisch sein kann. Das
Gedicht Lenaus vom traurigen Mönch, das
übrigens nicht zu seinen schönsten gehört,
scheint mir zur Klärung des Begriffes sehr
wichtig zu sein. Der geisterhafte Mönch, aus
dessen Augen

Der große und geheime Schmerz,
Der die Natur durchzittert,
Den ahnen mag ein blutend Herz,
Den die Verzweiflung wittert,
Doch nicht erreicht

herausblickt, und der mit diesem Blick Den,
den er ansieht, so todestraurig macht, dass er
sein Leben von sich werfen muss, kann als
Beispiel für das Romantische gelten. Die tiefsten
Regungen der Seele, die zugleich so allgemein
sind, dass sie auch das Thier ergreifen, und
die zuweilen in einem Einzelwesen plötzlich
aufwallen und sich kenntlich machen wollen,
die zu fassen und zu formen ist das Hauptziel
der Romantik. Es steht manches Gedicht in
der Sammlung, wo das auch ohne mittel-
alterliche Umgebung in hohem Grade erreicht
ist, z. B. »Aus der Jugendzeit« von Rückert,
der »Rosenstrauch« von Ferrand und neben
andern schon erwähnten schließlich das wunder-
volle »Vereinsamt« von Nietzsche, dessen
erster und letzter Vers wie ein leidenschaftlich
herber Moll-Accord ins Herz schneiden:

Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt;
Bald wird es schnei’n,
Weh Dem, der keine Heimat hat.

Mit diesem Gedicht befinden wir uns schon
mitten in der sogenannten Neu-Romantik und
bedauern, dass es das einzige ist. Wenn eine
Bewegung wiederkehrt, hat sie meistens,
während die Zeit sie in ihrem Schoße
trug, um sie wieder zu gebären, an Inten-
sität gewonnen. Vieles, was die ersten Roman-
tiker nur wollten, hat unsere Zeit erfüllt,
wieviel Raum auch noch für Weiterent-
wicklung bleibt. Auch Denen, die dem lyrischen
Naturgenie eines Novalis oder Eichendorff vor
unseren modernen Künstlern unbedingt den
Vorzug geben, würde doch der Vergleich
interessant sein, und sie würden das, was das
Wesen der Romantik ausmacht, an den
modernen leichter einsehen. Möchten dann
lieber allerlei Namen, wie: Körner, Platen,
Arndt theils gar nicht, theils weniger vertreten
sein; es träte uns dafür das Bild der blauen
Blume um so reiner und leuchtender entgegen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 18, S. 323, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-18_n0323.html)