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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 19, S. 331

Text

MULTATULI: WAHRHEIT IN DER LEGENDE.

klein nun in der Schätzung des fernen
Vorgeschlechtes — diese Kugeln sind nicht
unterworfen der Anziehungskraft der Erde
— wenigstens sie fallen nicht — da, in
der Gegend dieser unabhängigen Kugeln
oder Punkte muss Macht, Weisheit und
Gewalt über die Dinge wohnen. Ja, »ciel«
passt bei der Bitte um Erkenntnis. Ist
nicht eine der ersten Fragen des Kindes:
warum die Sonne nicht fällt?

Adam wollte wissen. Dies erhellt aus
dem Namen des verbotenen Baumes. Der
Dichter erachtete es unnöthig, Meldung
zu machen von Adams Begehr. Es ist
Wahrheit in dieser Versäumnis. Sie
deutet an, nicht allein, dass es so war,
sondern zugleich auch, dass es selbstver-
ständlich war. Denkt euch eine Kinder-
geschichte, worin der Autor mittheilt, wie
die Mutter das Schlecken vom Zucker ver-
bietet. Fühlt ihr nicht, dass das Hinweisen
auf die Lust der Kinder, auf ihr Begehren
nach Zucker überflüssig sein würde? Es
möchte scheinen, als hätten diese Kinder
einen besonderen Geschmack. Ihre Schleck-
lust wird als bekannt vorausgesetzt.

Es versteht sich von selbst, dass Adam
begierig war nach Erkenntnis. Als legen-
däre Figur gleicht er ebensosehr der
Menschheit in ihrer ersten Entwicklung,
als dem kleinen Knaben, der unersättlich
ist in Wissensbegierde: »Warum bewegt
sich dieses Wasser immer dorthin?
Warum flog dieser Tropfen von dem
Zweige zur Tiefe nieder? Warum ver-
schwand er da? Warum bewegen sich
die Blätter Wer oder was rührt sie
an? Warum fallen sie? Wie werden da
neue kommen? Was geschah mit mir,
als ich unlängst die Augen schloss? Ach,
es war nichts zu sehen, alles war schwarz
geworden Darauf habe ich eine
Weile — eine ganze Nacht, das wissen
wir nun — nicht gedacht, nicht gefühlt,
nicht wahrgenommen, und als ich die
Augen wieder öffnete, war alles gefärbt
und heller wie früher. Schlaf was
ist das? Hunger, Durst, Ermüdung, Be-
friedigung, Freude, Sorge, Begierde,
Schmerz, Genuss was ist das alles?
Ich will wissen!

Wie, ich, das schönste unter all
diesen Thieren, der ich Herrschaft führe
über die Fische im Meere, über die Vögel

unter dem Himmel und über alles
Gethier, das auf Erden kriecht, ich,
dem da gegeben ist allerlei Kraut, das
sich besamet auf der ganzen Erde, und
allerlei fruchtbare Bäume zu meiner
Speise, ich sollte nicht wissen dürfen?

Wenn Adam also gesprochen hätte
— er konnte es nicht, weil ihm die
Worte fehlten, doch die Empfindung war
so bei ihm — wäre er seinen Brüdern,
Faust, und uns allen nur ein wenig voraus-
gelaufen.

Und ihm wie allen wurde in der
Jugend von unserem Verstande zur Ant-
wort gegeben: »Du willst wissen?
Siehe da Eva, siehe da Gretchen
siehe da die Liebe

Ist es nicht so? Und ist eine deutlichere
Aufzeigung der Beziehung möglich zwischen
Sucht nach Erkenntnis und Hy-
sterie! Ich rede nun nicht von den
krankhaften Verirrungen dieser Triebe, ich
rede von einem gesunden Antrieb zum
Wissen und Lieben, und man wird ein-
sehen, dass die liebe Natur, die wohl-
handeln muss, bei Strafe der Vernichtung,
auch hierin gut gehandelt hat, indem sie alle
ihre Kräfte in einer Richtung anwendet.
Ohne dass sie den Ursachen nachforschten,
war es Moralisten und Psychologen schon
längst eine erkannte Thatsache, dass
Neugier ein Hauptbestandtheil der Liebe
ist. Doch sie dachten dabei allein an sinn-
liche Liebe, und indem ich die beiden
verwandten Termini in entsprechender
Weise zu höherem Sinn erhebe, behaupte
ich, dass die edle Wissenslust ein Erzeug-
nis desselben Bodens ist, worauf edle Liebe
wächst. Durchdringen, entdecken, besitzen,
lenken und veredeln, siehe da Aufgabe und
Begehr von Liebhaber und Natur-Ergrün-
der. Also ist jeglicher Ross oder Franklin
ein Werther der Polgegend, und jeder, der
lieb hat, ein Mungo Park des Gemüths.

Wohl weiß ich, dass überall viele Pizarros
gefunden werden gegen einen las Casas.
Doch diese traurige Constatierung wendet
sich nur gegen den Process, gegen die
Art der Ausführung, nicht gegen den
ursprünglichen Einfluss. Sie verurtheilt
Personen, nicht den Antrieb der Natur.
Lovelace und Faublas gegenüber steht
St. Preux. Der Astrologie gegenüber steht

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 19, S. 331, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-19_n0331.html)