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Zieles mit der schmerzlichen Anstrengung,
die nöthig ist für große Conception. Eine
Prosalüge kostet nicht viel, ja meistens
nichts, denn man produciert sie gewöhn-
lich durch ein enthaltsames Schweigen
über die Sache, die hätte genannt werden
müssen. Jedes Kammermitglied, das kein
Wort spricht über den elenden Zustand
des Volkes, ist ein Lügner. Jedes Kammer-
mitglied, das nicht glaubt an Christen-
thum, Christlichkeit, Auferstehung, Ewig-
keit, Gotteslohn, Gnade, Strafe u. s. w.,
und das dennoch ohne Protest das Budget
genehmigen lässt, in dem Millionen für
diese Dinge enthalten sind, ist ein Lügner.
Jeder König endlich, der in Thronreden
spricht von seinem »geliebten Volk« und
dieses Volk ganz einfach verderben und
verarmen lässt, ist ein Lügner.
»Kinder sagen die Wahrheit.« Dieser
Ausspruch kann volle Anwendung erfahren
auf das menschliche Geschlecht, dessen
allgemeine Geschichte sich am besten
begreifen lässt als ein einziges großes
»Faust«-Drama. Der erste Mensch—das ist:
die Menschheit in ihrer ersten Empfindung
von Selbstbewusstsein — wollte wissen.
Faust, sich einredend, dass er Mann sei
nach dem Durchlaufen der Kinderschule
von allerlei —logien, wollte wissen. Was
Adam von einem Baume glaubte pflücken
zu können, was Faust zu vernehmen ge-
dachte von Mephisto: schon der Knabe
fragt seine Gespielin darnach oder einen
Erwachsenen, der das Vertrauen seiner
jungen Seele hat, einerlei, wen. Es
ist Durst nach Erkenntnis. Dieser Durst
muss gelöscht werden, gleichgiltig, an
welchem Brunnen.
Doch es ist noch mehr, das antreibt
zur Bewegung. Unsere Sitten haben einen
künstlichen Abscheu gegen den Geschlechts-
trieb zur Geltung gebracht, und sie erlauben
eher eine aufgedrungene Lüge, als eine
philosophische Wahrheit, die nicht »an-
ständig« sein würde. Wer aber seinen
»Anstand« in der Wahrheit sucht, erkennt,
dass hysterische Empfindungen zu allen
Zeiten eine Hauptrolle spielten in der Ge-
schichte der Menschheit und der Menschen.
Man denke an den Phallus-Dienst, an die
Anbetung des schaffenden Urprincips, an
die Liebesmahle der ersten Christen, an
die schmachtende Verehrung des lieben
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Jesus durch die Nonnen, der — immer
schönen und immer jugendlichen —
Jungfrau Maria durch die Mönche. Überall
sieht man, dass die Sucht nach Liebhaben,
Anhängen, Einssein eine Hauptrolle spielt,
auch da, wo Die, die sie zeigen, nur
unbewusst die Werkzeuge dieser Neigung
sind. Wenn der Mann die Frau nicht
liebgehabt hätte, wäre das Paradiesgebot
nicht übertreten worden. Fausts hoch-
fliegende Wünsche liefen aus in eine ziem-
lich platte Liebesgeschichte. Der Knabe
verwechselt seine himmlische Fee mit der
alltäglichen Schneiderstochter.
Die Sucht zu wissen und zu er-
kennen in dem Knaben, in dem Doctor
in allerlei Dingen, der mit all seiner
Gelehrtheit ein Kind war, und endlich in
dem allerdümmsten Kinde, das in Asien
vor tausend Jahrhunderten zum Bewusst-
sein seiner selbst ahnend vorschritt, floss
ineinander mit der anderen Hauptbedingung
unserer Existenz: mit Liebe.
Erkennen, lieben noch fehlte etwas!
Wenn der Begierde nach Wissenschaft
Erfüllung zutheil geworden wäre, dann
wäre Sättigung eingetreten, und der Knabe,
der Gelehrte, die Menschheit wäre zum
Stillstand gekommen.
Das durfte nicht geschehen. Oder rich-
tiger — denn es möchte scheinen, als sei
etwas bestimmt, damit wir beständen;
es gibt kein »damit«, kein »auf dass«,
alles ist: weil — richtiger ist es, zu sagen,
dass wir nicht sein würden, wenn wir nicht
durch die Eigenschaften unseres Seins
gezwungen würden, fortzubestehen.
Wenn das Individuum — und dies gilt
bezüglich unseres ganzen Geschlechtes —
gesättigt sein könnte von Erkenntnis, so wäre
diese Sättigung ein Todesurtheil. Ebenso
auch mit der Liebe, mit dem Verlangen
der Annäherung, gleichgiltig, ob es sich
offenbart in einem Seufzer, in dem
Schenken einer Blume, im Erklimmen
eines Fensters, im Aufsuchen einer nörd-
lichen Durchfahrt nach Indien, im Er-
forschen des Grundstoffes einer Central-
sonne oder in der Versetzung unserer
Phantasie in die sogenannte höhere Sphäre
der Metaphysik just überall ist dies
brennende Begehren nach Einssein mit
dem Unbekannten die Ursache unserer
Bewegung, das ist: unseres Bestehens.
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