Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 362

Vererbung künstlerischer Talente*

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 362

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RUNDSCHAU.

Über die VERERBUNG KÜNSTLERI-
SCHER TALENTE spricht Dr. med. et phil. P. J.
Möbius in Dr. J. H. Bechholds »Umschau« (IV,
38). — Möbius, der die Bedingungen des mathe-
matischen Talents eingehend erforscht hat
(vgl. »W. R.« IV, 11, S. 178 ff: »Über den Sitz
des mathematischen Sinns«), fand auf dem
Gebiete der Künste (und zwar der bildenden
Künste und der Musik) die nämlichen Gesetze
herrschend. Das Talent des Künstlers geht zwei-
fellos auf die Veranlagung der Altvordern zurück
und steht in keinem bestimmten Verhältnis
zu anderweitigen Fähigkeiten. Nicht selten
findet man, dass mehrere Glieder einer Familie
dasselbe Talent aufweisen. Durch Gleichheit
der äußeren Lebensbedingungen, des Milieus,
der Erziehung, der Vorbilder etc. lässt sich
dies nur dort erklären, wo es sich bloß um
handwerksmäßigen Betrieb und traditionelle
Mittelmäßigkeit handelt; es gibt Maler-,
Zeichner-, Kupferstecher-, Musiker-Familien etc.,
in denen der Sohn thut, was der Vater gethan
hat — lediglich deshalb, weil er von Kindheit
an zu diesem Thun herangezogen wurde und
damit zufrieden ist. Oft ereignet es sich auch,
dass die Angehörigen eines hervorragenden
Talents diesem nachzustreben suchen, ohne
innerlich dazu berufen zu sein. Aber all diese
Parallel-Erscheinungen können hier nicht in
Betracht kommen. Dort, wo Kunstleistungen
von dauerndem Werte vorliegen und eine
gleichgeartete Begabung in derselben Familie
zutage tritt, können wir uns dieses Natur-
Phänomen nicht anders als durch Annahme
einer directen oder indirecten Vererbung
deuten. Allerdings tritt das künstlerische Talent
bisweilen auch ganz unvermittelt und uner-
wartet hervor — uns aber interessiert hier
vor allem die Frage: wie verhält es sich mit
der Vererbung schöpferischer Talente da,
wo sie nachzuweisen ist? Der eigentlich
typische Fall der Entstehung des Künstlers
ist — nach Möbius — der folgende: Die
Natur nimmt sozusagen einen Anlauf; aus
der Menge taucht ein Mann auf, dem ein
mittleres Talent verliehen ist — und sein Sohn
ist dann der Künstler. Die vorzüglichsten Bei-
spiele dieses typischen Falles sind: Raphael
und Mozart.

Bei der Vererbung künstlerischer Anlagen
kommt es, meint Möbius, der sich hiebei auf
zahlreiche Beispiele aus der Kunstgeschichte
stützt, vor allem auf die Qualitäten des Vaters
an, von dem die Vererbung in der Regel ausgeht.
Die Mutter spiele hierbei eine untergeordnete
Rolle; es sei kein einziges sicheres Beispiel be-
kannt, dass das Talent (zu den bildenden Künsten
oder zur Musik) jemals von der Mutter vererbt
worden wäre. Kleine, alltägliche Talente (z. B.
zum Clavierspiel) auf mütterlicher oder väter-
licher Seite können als Beweismittel natürlich
nicht mitzählen. Auch jene Fälle sind auszu-
scheiden, die von der Begabung beider Eltern-
theile melden; sie sind nicht selten, weil Künstler

bei der Brautwahl oft talentierte Mädchen bevor-
zugen. Bisweilen mag es allerdings vorkommen,
dass das Talent der Mutter latent geblieben,
weil sie durch die Verhältnisse des Lebens
an der Bethätigung ihrer Anlage gehindert
war; auch ist vielleicht der Fall möglich, dass
ihr Gehirn zwar des Talents entbehrt, ihre
Keimstoffe aber die Träger der Begabung
waren. Nicht ausgeschlossen scheint es ferner,
dass man die künstlerische Anlage vom mütter-
lichen Großvater zu erben vermag, ohne dass
sie bei der Mutter bemerkbar geworden wäre.
Aber diese Annahmen sind rein hypothetische;
die Erfahrung bestätigt sie nicht, sichere Bei-
spiele wurden nicht gefunden.

Interessant ist auch das Factum, dass in
der Regel die Sprösslinge aus Ehen zwischen
Künstlern einerseits und Künstlerinnen oder
Töchtern von Künstlern andererseits, durchaus
nicht reicher an Talent sind, als die aus Ehen
zwischen Künstlern und gewöhnlichen Frauen
hervorgegangenen Kinder. Als Beispiele führt
Möbius an: Andrea Mantegna, dessen Frau
eine Tochter Jacopo Bellinis war, zeugte mit
ihr einen Sohn, der sich zwar gleichfalls als
Maler bethätigte, aber keinerlei Bedeutung er-
langte. Paolo Cagliari heiratete die Tochter
Badiles — seine Söhne waren ohne Talent.
Velasquez heiratete die Tochter Pachecos;
es wird nur berichtet, dass seine Tochter
wieder einen Maler heiratete. Nicolas Poussins
Frau war eine Tochter Dughets. Jacob Jor-
daens war mit einer Tochter A. van Noorts
vermählt. Jan Steen heiratete Goyens Tochter.
Altnikol hatte eine Tochter J. S. Bachs zur
Frau etc. etc. Von den Kindern dieser ehe-
lichen Verbindungen, denen sich leicht noch
einige Dutzend anderer Künstlerehen als Bei-
spiele anfügen ließen, hat man nichts Rühmens-
wertes gehört. Wäre aber das Weib imstande,
Talent zu vererben, so müsste diese Species
Ehen ganz im Gegentheil eine Art von Genie-
zucht darstellen. Allerdings aber kann nicht
geleugnet werden, dass die Eigenschaften der
Mutter dem Talent ihres Künstler-Sprösslings
eine bestimmte Färbung zu geben vermögen;
gewisse Qualitäten des mütterlichen Keims
können, scheint es, der Erzeugung künst-
lerischer Anlagen förderlich sein. Die Ver-
mischung mit einem bestimmten Weibe
kann wohl eine neue Eigenschaft entstehen
lassen, wie ja auch ein neuer chemischer Stoff
entsteht, wenn gewisse Stoffe von scheinbarer
Unähnlichkeit einander begegnen. Sieht man
aber, wie durch eine Reihe von Genera-
tionen ein Talent sich fortpflanzt, dann liegt
es ungleich näher — statt an die Hilfe des
weiblichen Keims zu glauben — die besondere
Beschaffenheit der männlichen Keime verant-
wortlich zu machen. Denn offenbar sind in solche
Familien ganz verschiedenartige Weiber mit dem
gleichen Erfolge eingetreten, und es ist unwahr-
scheinlich, dass sie alle die erwähnten förder-
lichen Eigenschaften gehabt haben sollen.

Nachdruck der Artikel oder Notizen ist nur mit genauer Quellen-Angabe gestattet.


Herausgeber: Constantin Christomanos und Felix Rappaport. — Verantwortlicher Redacteur:
Anton Lindner.

K. k. Hoftheater-Druckerei, Wien, I., Wollzeile 17. (Verantwortlich A. Rimrich.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 362, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-20_n0362.html)